hcv

SoZi 14|09: die zerstreute Gesellschaft

Vilém Flusser zur “Zer­streu­ung der herge­bracht­en Gesellschafts­grup­pen durch die tech­nis­chen Bilder”:

8. STREUEN

Die tech­nis­chen Bilder ste­hen im Zen­trum der Gesellschaft. Aber da sie pen­e­trant sind, scharen sich die Men­schen nicht um sie, son­dern sie verkriechen sich, jed­er in seinem Winkel. Die tech­nis­chen Bilder wer­den aus­ges­trahlt, und an der Spitze eines jeden Strahls sitzt, ein­sam in die Enge getrieben, ein Empfänger. Auf diese Weise zer­streuen die tech­nis­chen Bilder die Gesellschaft zu Körn­ern. Jedes tech­nis­che Bild wird als End­punkt eines Strahls, als ein »Ter­mi­nal« emp­fan­gen. Daher bildet die zer­streute Gesellschaft keinen amor­phen Sand­haufen, son­dern ihre Körn­er verteilen sich nach der Struk­tur der von den Zen­tren aus­ge­hen­den Strahlen.
Diese Strahlen (die Kanäle, die Medi­en) struk­turi­eren die Gesellschaft, etwa wie ein Mag­net um sich herum Eisen­späne struk­turi­ert. Die von der mag­netis­chen Fasz­i­na­tion der tech­nis­chen Bilder zer­streute Gesellschaft ist wohl struk­turi­ert, und eine Analyse der Medi­en bringt diese Struk­tur zutage. Die Medi­en bilden von den Zen­tren, den Sendern, aus­ges­trahlte Bün­del. »Bün­del heißen lateinisch »fasces«. Die Struk­tur der von tech­nis­chen Bildern beherrscht­en Gesellschaft ist dem­nach fascis­tisch, und zwar ist sie faszis­tisch nicht aus irgen­welchen ide­ol­o­gis­chen, son­dern aus »tech­nis­chen« Grün­den. So wie die tech­nis­chen Bilder gegen­wär­tig geschal­ten sind führen sie »von selb­st« zu ein­er fascis­tis­chen Gesellschaft.

Wat der aldde Adorno wohl zu der Analyse erwidert hätte?

Diese Gesellschaftsstruk­tur taucht erst seit weni­gen Jahrzehn­ten empor, und sie bricht dabei durch die vor­ange­gan­genen Gesellschaftsstruk­turen, wie etwa ein Unter­see­boot durch eine Eis­decke hin­durch empor­taucht. Die vor­ange­gan­genen zwis­chen­men­schlichen Gesellschafts­grup­pen fall­en bei desem Durch­bruch zu allen Seit­en hin auseinan­der und zer­bröck­eln. Fam­i­lie, Volk, Klasse zer­ber­sten zu Schollen.
Und es ist beze­ich­nend für die meis­ten Sozi­olo­gen und Kul­turkri­tik­er, daß sie sich fün den Zer­fall der herge­bracht­en Gesellschaftsstruk­tur mehr inter­essieren als für das Empor­tauchen der neuen; daß sie mehr auf das Krachen des Eis­es als auf das empor­tauchende Unter­see­boot acht­en. Daher sprechen sie von einem Ver­fall der Gesellschaft, statt von der neuen Gesellschaft zu sprechen. Sie kri­tisieren die zer­fal­l­en­den Struk­turen, anstatt die neuen zu kri­tisieren. An der Fam­i­lie etwa kri­tisieren sie den phal­lokratis­chen Machis­mus, am Volk den Chau­vin­is­mus, an der Klasse den Kampf zwis­chen Klassen; sie kick­en tote Pferde.

aus: Flusser, Vilém (2000 [1985]):
Ins Uni­ver­sum der tech­nis­chen Bilder; S. 68–69

Soviel die erste Seite des Kapi­tels 8. Jaja, das ist was für die form der unruhe.
Es geht amüsant weit­er, vl. auch hier im Keller­a­bteil mit dem näch­sten SoZi der Woche 15 …

8 Kommentare zu “SoZi 14|09: die zerstreute Gesellschaft”

  1. /sms ;-)

    ui. erst mal urlaub. und dann spaeter wieder ein andere zyk­lus. wobei ich bere­its im katholis­chen umland bin. und ich mich bere­its pri­ma kontra-tief(f) ein­fuehlen kann ;-P

    Antworten
  2. lars

    Ver­mut­lich zuerst ein­mal: dass man kri­tis­che The­o­rie nicht mit Kul­turkri­tik gle­ich­set­zen dürfe. Und um Freud zu bemühen: Wenn Kri­tis­che The­o­rie Trauer­ar­beit ist, dann ist Kul­turkri­tik Melan­cholie. Und das ist ein Unter­schied ums Ganze 😉

    Und ein Zusam­men­fall­en von Vol­len­dung und Zer­fall erin­nert das Kul­turgedächt­nis eher an Spen­gler oder Hunt­ing­ton, die Gesellschaft­sen­twick­lung zyk­lisch, damit ahis­torisch und let­ztlich unge­sellschaftlich konzip­ierten.

    Nein Vol­len­dung ist Zemen­tierung, Uni­ver­sal­isierung, Nat­u­ral­isierung, Tran­szen­den­tal­isierung und Hege­mo­ni­al­isierung: Also um ein Ver­schwinden­machen der spez­i­fis­chen Grund­la­gen, die eben jene neue Ord­nung erst ermöglicht­en. Es wird unendlich rück­wärts pro­jeziert, was ger­ade eben erst emergierte. Oder wie es Adorno sagte: “als fiele der Erwerb von drei Autos durch eine zweiköp­fige Fam­i­lie unter dieselbe Kat­e­gorie wie das Aufle­sen von Frücht­en in ein­er prim­i­tiv­en Samm­ler­horde.”

    Der­gle­ichen gilt auch für den Begriff der Kontin­genz, er ist ja auch nur ein Begriff der Mod­erne, darin wäre Luh­mann recht zu geben. Und Kontin­genz meint ja nicht Zufäl­ligkeit, son­dern zwin­gende Fol­gen aus nicht notwendi­gen Struk­turierun­gen: Gesellschaft eben, wie Adorno es begriff.

    Auf ein­er anderen Ebene ließe sich das am Stel­len­wert des Evo­lu­tions­be­griff disku­tieren, wie aktuell etwa bei MomoRules: http://tinyurl.com/club34

    Aber was ist der Kon­trati­eff-Zyk­lus?

    Antworten
  3. hc voigt

    joi, da hast Du mir jet­zt ein paar good­ies zum dran kauen geschenkt.

    Trauer­ar­beit ist ja immer Arbeit am kul­turellen Gedächt­nis, mit deut­lich­er Konzen­tra­tion auf die Zukun­ft (sms’sens ‘erin­nern ‑gedenken — erneuern’). Freilich ist mir das noch nie aufgefallen/eingefallen, Kul­turkri­tik und Sozi­olo­gie als ‘Trauer­ar­beit an der Gesellschaft’ zu betra­cht­en.

    Als an dem kom­mu­nika­tiv­en und kul­turellen Gedächt­nis sehr Inter­essiert­er, fasziniert mich dieser Aspekt jet­zt aber hal­lelu­ja. (oder: ‘aber hal­lo’, wie wiederum sms die Beto­nung set­zen würde.)

    und was Deine These bet­rifft, auch da möcht ich noch mal daran arbeit­en; jeden­falls sind wir da vl. auf ähn­lichen Pfaden. Meinere­in­er ver­mutet, dass es mehr in Rich­tung ein­er neuen “Art von Trib­al­isierung” gehen wird. (vgl. meine präsi hier)

    Allerd­ings denke ich auch — und Du schreib­st selb­st eben­falls von “Vol­len­dung” und damit “Zer­fall”(?) -, dass mit dem aktuellen Kon­trati­eff-Zyk­lus alles ver­dammt anders wer­den wird.
    Bald in unserem Weltthe­ater: Kontin­genz galore.

    btw., denke eben­falls nicht, dass Adorno in der basalen Aus­sage, dass er also inhaltlich wider­sprochen hätte. Was er aber im Sinne von Debat­te geant­wortet, was er wider sprochen hätte? 🙂

    Antworten
  4. lars

    ich bin mir ja nicht sich­er, ob Adorno dem wirk­lich wider­sprochen hätte, vielle­icht würde er die neg­a­tive Dialek­tik der Indi­vid­u­al­isierung her­vorheben, die den Einzel­nen zugle­ich isoliert um ihn umso mehr gesellschaftlich zu binden.
    Adorno war doch im wesentlichen kein Zer­fall­s­the­o­retik­er der Gesellschaft, auch wenn das in manchen sein­er Aus­sagen so erscheint, son­dern ein­er, der die ver­passte his­torische Chance ein­er ver­söh­n­ten Gesellschaft analysierte. Kri­tis­che The­o­rie ist ja im wesentlichen eine Trauer­ar­beit an der Gesellschaft. Dabei Luh­mann ganz ähn­lich auf das “es hätte auch anders sein kön­nen” behar­rend, im Unter­scheid aber zu diesem nicht mit ein­er nat­u­ral­is­tis­chen Evo­lu­tion­s­the­o­rie, son­dern mit ein­er Philos­phiegeschichte argu­men­tierend.

    Gesellschaft dachte Adorno als Herrschaft­szusam­men­hang, nicht als etwas, was gestärkt oder vor Zer­fall bewahrt wer­den müsste. Siehe den gle­ich­nami­gen Essay und jenen über “Sta­tik und Dynamik” in seinen sozi­ol­o­gis­chen Schriften, Band 1.

    Meine These ist ja eher, dass das neue Medi­en­regime zu ein­er Vol­len­dung der bürg­er­lichen Gesellschaft führt, weil es die Tren­nung von Citoyen und Bour­geouis zemen­tiert. Während der Con­tent immer stärk­er in Rich­tung Selb­st­stil­isierung und ‑ästhetisierung des Pri­vat­manns tendiert, erzwingt die Dis­sem­i­na­tion des Medi­ums in sein­er Gebrauch­sweise einen Egal­i­taris­mus des Nutzers, der schließlich auch als Exk­lu­sion­s­mech­a­nis­mus der neuen Ord­nung fungiert.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Change, Social Change and Velocity | kellerabteil2.0 Antworten abbrechen

Basic HTML is allowed. Your email address will not be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.