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SoZi 26|09: Die Macht und die Kritik

Wer kön­nte unter dieser Über­schrift ander­er zu erwarten sein als der Fou­cault Michel.

Also wieder ein Anlass evoziertes Son­ntagsz­i­tat.

Am 25. Juni jährte sich sein Todestag zum 24ten mal, bere­its ein Viertel­jahrhun­dert also müssen (u.a.) die Sozial­wis­senschaften ohne neue Inter­ven­tio­nen durch diesen Unbestech­lichen, Philosophen, Psy­cholo­gen, His­torik­er, Samu­rai, Rebellen, Empirik­er, Archäolo­gen und Foren­sik­er, Vor­tra­gen­den, Kri­tik­er, Lehrer, Ideenge­ber, The­o­retik­er, … auskom­men;
und ein Viertel­jahrhun­dert arbeit­en wir uns quer durchs Gemüse­beet schon an seinem Werk ab und das Werk wird noch lange aus­re­ichend Wider­ständigkeit an den Tag leg­en, dass ein Ende des Abar­beit­ens nicht abzuse­hen ist.

Hier zwei kurze Pas­sagen aus dem Werk:

Die Macht gibt es nicht. Ich will damit fol­gen­des sagen: die Idee, das es an einem gegebe­nen Punkt irgen­det­was geben kön­nte, das eine Macht ist, scheint mir auf ein­er trügerischen Analyse zu beruhen und ist jeden­falls außer­stande, von ein­er beträchtlichen Anzahl von Phänome­nen Rechen­schaft zu geben.
Bei Macht han­delt es sich in Wirk­lichkeit um Beziehun­gen, um ein mehr oder weniger organ­isiertes, mehr oder weniger organ­isiertes, mehr oder wenger pyra­mi­dal­isiertes, mehr oder weniger koor­diniertes Bün­del an Beziehun­gen. Fol­glich beste­ht das Prob­lem nicht darin, eine The­o­rie der Macht zu begrün­den, der die Auf­gabe zukäme, zu wieder­holen, was schon ein Boulainvil­liers oder aber ein Rousseau hat machen wollen. Bei­de gehen von einem Urzu­s­tand aus, in dem alle Men­schen gle­ich sind, und dann – was passiert dann? Ein Ein­bruch der Geschichte für den einen, das mythisch-juridis­che Ereig­nis für den anderen – was auch immer man bevorzugt, stets läuft es so: von irgen­deinem Zeit­punkt an haben die Leute keine Rechte mehr gehabt, und die Macht war da.
Wenn man ver­sucht, eine The­o­rie der Macht aufzustellen, wird man immer gezwun­gen sein, sie als an einem gegebe­nen Ort, zu ein­er gegebe­nen Zeit auf­tauchend anzuse­hen, und man wird genötigt sein, ihre Genese aufzuzeigen und dann ihre Deduk­tion vorzunehmen. Wenn aber die Macht in Wirk­lichkeit ein offenes, mehr oder weniger koor­diniertes Bün­del von Beziehun­gen ist, dann stellt sich nur das Prob­lem, ein Analyse-Raster zu schmieden, das eine Ana­lytik der Macht­beziehun­gen ermöglicht.

aus: Fou­cault, Michel (1978):
Dis­pos­i­tive der Macht, S. 126–127

und:

In Wirk­lichkeit lautet die Frage, von der ich Ihnen sprechen wollte und sprechen will: Was ist Kri­tik? [..]

[..] Es gibt etwas in der Kri­tik, das sich mit der Tugend ver­schwägert. Ich möcht Ihnen gewis­ser­maßen von der kri­tis­chen Hal­tung als Tugend im all­ge­meinen sprechen.

Es gibt ziem­lich viele Wege, um die Geschichte dieser kri­tis­chen Hal­tung zu schreiben. Ich möchte Ihnen hier einen möglichen Weg vorschla­gen – der von der christlichen Pas­toral aus­ge­ht. Die christliche Pas­toral bzw. die christliche Kirche, insoferne sie eben eine spez­i­fisch pas­torale Aktiv­ität ent­fal­tete, hat die einzi­gar­tige und der antiken Kul­tur wohl gän­zlich fremde Idee entwick­elt, daß jedes Indi­vidu­um unab­hängig von seinem Alter, von sein­er Stel­lung sein ganzes Leben hin­durch und bid ins Detail sein­er Aktio­nen hinein regiert wer­den müsse und sich regieren lassen müsse: daß es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jeman­den, mit dem es in einem umfassenden und zugle­ich peniblen Gehor­samsver­hält­nis ver­bun­den sei. [..] Man darf nicht vergessen, daß es die Gewis­sens­führung war, die man jahrhun­derte­lang in der griechis­chen Kirche techne tech­non und in der römis­chen Kirche ars artium nan­nte: es war die Kun­st, die Men­schen zu regieren. Gewiß ist diese Regierungskun­st lange Zeit, auch noch in der mit­te­lal­ter­lichen Gesellschaft, rel­a­tiv beschränkt geblieben .. .
Aber ich glaube, daß es vom 15. Jahrhun­dert an, bere­its vor der Ref­or­ma­tion, eine wirk­liche Explo­sion der Men­schen­regierungskun­st gegeben hat – Explo­sion in einem zweifachen Sinne.
Zunächst ist diese Kun­st über ihre religiöse Herkun­ft hin­aus­ge­gan­gen: sie hat sich also laisiert und in der zivilen Gesellschaft aus­ge­bre­it­et. Sodann hat sich diese Regierungskun­st in den ver­schieden­sten Bere­ichen vervielfältigt: wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bet­tler, wie regiert man eine Fam­i­lie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man die ver­schiede­nen Grup­pen, die Städte, die Staat­en, wie regiert man seinen eige­nen Kör­p­er, wie regiert man seinen eige­nen Geist? Wie regiert man? – ich glaube, daß das eine der grundle­gen­den Fra­gen des 15. und  16. Jahrhun­derts gewe­sen ist. [..]

Doch kann von dieser Regierungsent­fal­tung, die mir für die Gesellschaften des europäis­chen Abend­lan­des im 16. Jahrhun­dert charak­ter­is­tisch erscheint, die Frage, “wie man denn nicht regiert wird”, nicht getren­nt wer­den. .. Ich will sagen, daß sich in jen­er großen Unruhe um die Regierung und die Regierungsweise auh die ständi­ge Frage fest­stellen läßt: “Wie ist es möglich, daß man nicht der­ar­tig, im Namen dieser Prinzip­i­en da, zu solchen Zweck­en und mit solchen Ver­fahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?”

Wenn man diese Bewe­gung der Regier­bar­ma­chung der Gesellschaft und der Indi­viduen his­torisch angemessen ein­schätzt und einord­net, dann kann man ihm, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kri­tis­che Hal­tung nenne.
Als Gegen­stück zu den Regierungskün­sten, gle­ichzeit­ig ihre Part­ner­in und ihre Wider­sacherin, als Weise ihnen zu miß­trauen, sie abzulehnen, sie zu begren­zen und sie auf ihr Maß zurück­zuführen, sie zu trans­formieren, ihnen zu entwischen oder sie immer­hin zu ver­schieben zu suchen, … ist damals in Europa eine Kul­tur­form ent­standen, eine moralis­che und poli­tis­che Hal­tung, eine Denkungsart, welche ich nenne:
die Kun­st nicht regiert zu wer­den bzw. die Kun­st nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu wer­den.

aus: Fou­cault, Michel (1992 [1990]):
Was ist Kri­tik?, S. 7–12

[audio:http://gffstream‑8.vo.llnwd.net/c1/m/1245743230/radio/zeitzeichen/WDR5_Zeitzeichen_20090625_0920.mp3]
aus der WDR pod­cast Rei­he ZeitZe­ichen (thx to Karl H. Schön­swet­ter)

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