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Reiseziel Europa

Wir, die wir Fotos vom Meer und von Märschen durch Mazedonien auf unseren Handys haben

Fünf New­com­er erzählen vom Weg nach Europa, von der Bedeu­tung, die Smart­phones und Social Media für sie hat­ten, warum Viber, What­sApp oder tango.me wichtig sind und welche Rolle manche Apps jet­zt auf ihren Handys spie­len.

Erschienen in Stimme — Zeitschrift der Ini­tia­tive Min­der­heit­en 98, Früh­ling 2016
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☛ zu bestellen unter: abo@initiative.minderheiten.at

 

Wir haben unter­schiedlich lange Wege hin­ter uns. Wir sind über ver­schiedene und doch ähn­liche Fluchtrouten in Öster­re­ich angekom­men. Auf die Frage, woher wir kom­men, sagen wir kurz Afghanistan oder Syrien. Aus Traiskirchen haben wir es alle her­aus­geschafft, aber unsere Ver­fahren laufen und für diesen Artikel haben wir uns auf die Wir-Form geeinigt, ohne unsere Namen zu nen­nen.

Uns zu tre­f­fen und ken­nen­zuler­nen ist trotz­dem ein­fach und wir freuen uns. Seit dem Spät­som­mer 2015 – vier von uns fünf sind da ger­ade erst angekom­men – spie­len wir gemein­sam mit vie­len anderen unser­er Brüder und Schwest­ern The­ater: „Schutzbe­foh­lene per­for­men Jelineks Schutzbe­foh­lene“.

Über die The­ater-Work­shops in Traiskirchen vor dem Lager haben wir uns ken­nen­gel­ernt. Seit diesen Tagen im August 2015 nutzen wir eine geheime Face­book-Gruppe für die interne Kom­mu­nika­tion und zur Inte­gra­tion neuer Ensem­blemit­glieder. Der aktuelle Mit­glieder­stand zeigt neu­nund­sechzig Per­so­n­en, vier davon sind neu aus der let­zten Woche.

Alle Kontakte, die wir noch haben

Ohne die Plat­tform auf Face­book hät­ten sich manche von uns schon in den ersten Wochen und Monat­en ver­loren, als immer wieder ohne Vor­war­nung Ver­legun­gen in andere Flüchtling­sun­terkün­fte durchge­führt wur­den.

Die Tele­fon­num­mer ist weniger ver­lässlich als Social Media Plat­tfor­men. Ist das Handy weg, find­en wir ver­mis­ste Freund_innen kaum über Tele­fon­num­mern, die an neu gekaufte SIM-Karten gekop­pelt sind. Wir haben Kon­takt, weil wir auf Face­book, What­sApp und Viber verknüpft sind.

In der Face­book-Gruppe wer­den neben Probezeit­en und Tre­ff­punk­te für die Vorstel­lungstage natür­lich auch andere nüt­zliche Infos gepostet: zu Deutschkursen, über Apps zur Ori­en­tierung, kosten­lose Ange­bote. Irgend­wann stand da die Ein­ladung an Inter­essierte, gemein­sam einen Artikel für die STIMME zu entwer­fen, gepostet von einem unser­er Fre­unde von der Schweigen­den Mehrheit.

Solche Post­ings muss jemand über­set­zen, von Deutsch und Englisch auf Far­si und Ara­bisch. Als Reak­tion gepostete Kom­mentare brauchen wieder Übersetzer_innen, die Antworten oder Rück­fra­gen auf Englisch oder Deutsch ver­ständlich machen. Automa­tis­che Über­set­zung­spro­gramme helfen sel­ten, bei Ara­bisch scheit­ern die besten.

Smi­leys und Stick­er bilden dage­gen eine lin­gua fran­ca. Wir machen reich­lich Gebrauch von ihnen. So lässt sich nicht nur mit einem Lächeln Fre­undlichkeit aus­drück­en, son­dern auch eine fra­gende oder zus­tim­mende Geste, für die es keine Über­set­zung braucht.

Ja, etwas schreiben will ich gern. Wie wir was nutzen? Soll ich sel­ber schreiben und du über­set­zt oder schreiben wir gemein­sam? Und ich habe noch nicht genau ver­standen, was meinst du, was brauchen wir genau?

Was heißt Social Media? Ah! Ja, das ist wichtig

Die meis­ten von uns haben keinen “Social Media”-Begriff. Wir nutzen Face­book. Wir nutzen What­sApp. Täglich. Stündlich. Ja, auch YouTube. Was noch? Viber, Skype, tango.me. Wichtig ist Google Maps, ob auf den Fluchtrouten oder jet­zt in Wien. Aber das wichtig­ste ist das Handy. Ohne Handy geht gar nichts. Dazu ein stark­er Pow­er Pack, um den Akku mehrmals nach­laden zu kön­nen. Eine SIM-Karte. Ja, das ist alles wichtig.

Ok, we can talk about all that, let’s meet, write me on Face­book when.

Wir haben uns dann ein paar Mal in ver­schiede­nen Kon­stel­la­tio­nen getrof­fen. Fünf New­com­er und ein hier Geboren­er von der Schweigen­den Mehrheit. Manche von uns haben zur Vor­bere­itung ihre Über­legun­gen schon auf Deutsch struk­turi­ert und abgetippt, ein gutes Train­ing beim Sprache Ler­nen. Es gab ein langes Gespräch zu viert, das wir aufgenom­men haben, in Englisch, Ara­bisch und ein biss­chen Deutsch. Für Far­si sind wir zweimal zu dritt zusam­menge­sessen. Es gab Einzelge­spräche, wir haben Nachricht­en über Face­book aus­ge­tauscht und uns schlussendlich abge­sprochen, ohne alle Tele­fon­num­mern oder E‑Mail-Adressen voneinan­der zu haben.

19 Seit­en hat das Google Doc, in das alles einge­flossen ist. Zu viel um alles zu präsen­tieren. Fan­gen wir mit unseren unter­schiedlichen Aus­gangssi­t­u­a­tio­nen an.

Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling

Wir kom­men aus dem Euphrat-Tal im Osten Syriens und wir kom­men aus dem kur­dis­chem Gebi­et nordöstlich davon. Wir kom­men aus Damaskus. Wir kom­men aus ein­er Prov­inz im Zen­trum Afghanistans. Und wir kom­men aus ein­er Sied­lung etwas außer­halb Teherans, in der geflo­hene Afghan_innen harte Jobs machen müssen.

Wir sind mit 13 Jahren aufge­brochen, zuerst Rich­tung Kab­ul und dann in den Iran geflüchtet.

Wir haben uns aus Syrien in den Libanon und eine Zeit lang dort durchgeschla­gen, bis wir keine andere Option mehr als Europa hat­ten.

Wir sind, wie schon dutzende Male zuvor, zu Ver­wandten auf die türkische Seite der Gren­ze gefahren und dann unter­ge­taucht, weil die Türkei ger­ade begonnen hat­te, syrische Ver­triebene aufzu­greifen und festzunehmen.

Wir haben schon Jahre vor der endgülti­gen Reise für die Fam­i­lie Fluchtop­tio­nen von Ägypten aus erkun­det und sind schließlich über einen Stu­di­en­aufen­thalt in Nordzypern in die Türkei gelangt. Zu dem Zeit­punkt kon­nten syrische Flüchtlinge sich dort noch unbe­hel­ligt und legal fort­be­we­gen und wir haben einen Teil der Fam­i­lie aus dem vom IS kon­trol­lierten Gebi­et dort glück­lich getrof­fen.

Wir haben unter­schiedliche Bil­dungs­geschicht­en, Stu­di­en­ab­schlüsse eben­so wie nie eine Schulk­lasse von innen gese­hen und stattdessen in Fab­riken und Näh­stuben geschuftet, um das Geld für den Schlep­per von Afghanistan in den Iran zurück­zuzahlen und für die näch­ste Etappe nach Europa etwas anzus­paren. Wir hat­ten je nach unseren Hin­ter­grün­den dort, von wo wir aufge­brochen sind, ein freies Inter­net, ein zen­siertes oder gar keines.

Wir sind durch Städte gereist, in denen man die Schlep­per in Kaf­fee­häusern tre­f­fen kon­nte und durch andere, wo sie in einem Park unweit des Zen­trums zu find­en waren. Wir hat­ten Etap­pen, wo man die Verbindung über das Inter­net hergestellt hat.

Reiserouten nach Europa

Planung ist gut. Alles ist Kismet.

All diese Aspek­te – und noch ein paar mehr – bes­tim­men, welche Optio­nen wir haben um voranzukom­men, und ob wir mit Social Media bessere Karten haben oder nicht. Die Etappe, die wir ger­ade zu bewälti­gen haben, gibt die Optio­nen vor. Unsere Bil­dung und die Arbeitsmeth­o­d­en der Schlep­per geben die Optio­nen vor.

In Afghanistan sind viele von uns Analphabet_innen und im Iran gibt es ein streng zen­siertes Inter­net. In Syrien gibt es für jede anvisierte Stadt Face­book-Seit­en, auf denen hun­derte und tausende Men­schen auf Ara­bisch posten. Für Fluchtrouten aus Afghanistan und aus dem Iran gibt es das kaum.

Was ist das Nahe­liegende, wenn wir vor ein­er unbekan­nten Reise ste­hen? Wir kon­tak­tieren ver­traute Per­so­n­en, die die Reise bere­its gemacht haben. Wir fra­gen uns durch, bekom­men Kon­tak­te – auf Face­book, über What­sApp, Viber, Skype. Manche von uns ler­nen so Lesen und Schreiben. Oder wir bekom­men Tele­fon­num­mern.

So ist es sehr wahrschein­lich, dass Afghan_innen alle Etap­pen – bis zu denen inner­halb von Europa – über afghanis­che Fluchthil­fenet­zw­erke bewälti­gen. Kurd_innen ver­trauen kur­dis­chen Struk­turen, ara­bis­che Ver­triebene ara­bis­chen Net­zw­erken. Das bringt die Sprache mit sich, die famil­iären Kon­tak­te sowie die Fre­un­des- und Bekan­ntenkreise.

Noch mehr wer­den unsere Optio­nen aber von der aktuellen poli­tis­chen Lage bes­timmt. Die Regeln, die an der jew­eili­gen Gren­ze gel­ten, die Routen, die wir nehmen kön­nen, alles kann sich von Tag zu Tag ändern. Und nicht nur Poli­tik, Polizei und Mil­itär, auch die Topolo­gie, Net­z­ab­deck­ung oder die Ver­füg­barkeit von Steck­dosen bes­timmt mit.

Manch­mal gibt es Steck­dosen, aber es sind zu wenige. Manch­mal kostet ein­mal Handy-Aufladen zwei Euro (ein­mal Pow­er Pack-Laden vier Euro) und manch­mal – auf dem zehn­tägi­gen Marsch durch Maze­donien – haben wir an men­schen­leeren Hal­testellen immer Stromk­a­bel gesucht, freigelegt, von der Isolierung befre­it und mit eige­nen Dräht­en so mehrere unser­er Handys gle­ichzeit­ig aufge­laden.

Drei Arten von Online-Angeboten via Facebook & Co

Bei der Recherche im World Wide Web ist Face­book tat­säch­lich die wichtig­ste Plat­tform. Für jede Etappe jed­er Fluchtroute gibt es Seit­en und Grup­pen in mehreren Sprachen. Auf Ara­bisch find­en wir mehr als auf Far­si. In Syrien sind Face­book-Seit­en pro Stadt und Prov­inz die wichtig­sten Anlauf­stellen – nicht nur für Infor­ma­tio­nen zu Fluchtrouten, son­dern auch, um die Kriegslage einzuschätzen. Alle nutzen Face­book: die Schlep­per, die Islamis­ten, die zivilge­sellschaftlich engagierten Fluchthelfer_innen und wir.

Wir kön­nen daher drei Arten von Seit­en auf Face­book unter­schei­den:

  • Es gibt solche, auf denen die Schlep­per ihre Ange­bote und Leis­tun­gen bewer­ben.
  • Es gibt Seit­en, die von Aktivist_innen betrieben wer­den, die ein­fach helfen.
  • Und es gibt als dritte Kat­e­gorie die selb­stor­gan­isierten Grup­pen, in denen alle jene, die ger­ade unter­wegs sind, Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen und gemachte Erfahrun­gen weit­ergeben. Welch­er Schlep­per ist gut, welche Route ist gefährlich, wo kann man Pässe kaufen, wo kön­nen wir sich­er über­nacht­en, was macht Ungarn ger­ade, wie sieht es in Izmir oder Bodrum aus usw.

Face­book ist ein Mark­t­platz der Schlep­per. Sie schreiben, „Unser Schiff ist sich­er, groß und kom­fort­a­bel“, „Wir garantieren, dass max­i­mal 20 Per­so­n­en in ein Boot kom­men“, „Wir fahren mit einem Reise­bus mit Wifi direkt von X nach Y und dazwis­chen muss nur max­i­mal eine Stunde zu Fuß gegan­gen wer­den.“ Die Wer­bung stimmt natür­lich nicht. Die Schiffe sind alte Boote. Gum­mi­boote müssen wir selb­st auf­blasen und wer­den mit 40 Per­so­n­en vollgestopft. Busse sind in Wirk­lichkeit Liefer­wa­gen. Fußmärsche dauern acht Stun­den oder länger als einen Tag.

Aber wir brauchen die Schlep­per. Wir wis­sen natür­lich, dass wir ihnen nicht ver­trauen kön­nen, also ver­suchen wir von den­jeni­gen, die vor uns auf den Fluchtrouten waren, Empfehlun­gen zu bekom­men, Tele­fon­num­mern, Namen, Adressen, Accounts auf Skype, Viber, tango.me oder What­sApp. Manche Schlep­per sind gut, manche sind gefährlich.

Die zweite Art von Face­book-Seit­en kann man sich so vorstellen: Engagierte Men­schen organ­isieren gemein­sam Hil­fe. Das sind Per­so­n­en aus Syrien, Palästi­na, Sau­di-Ara­bi­en, aus der Türkei und Griechen­land und solche, denen die Flucht nach Öster­re­ich, Deutsch­land, Schwe­den oder in die Nieder­lande schon geglückt ist. Sie stellen Notrufnum­mern zur Ver­fü­gung.

Wenn wir ohne Motor auf dem Meer treiben, organ­isieren diese Helfer_innen Ret­tung. Kurz vor dem Able­gen von der türkischen Ägäisküste teilen wir ihnen Abfahrsort und ‑zeit, das Boot, die Anzahl der Per­so­n­en und die eingeschla­gene Rich­tung mit. Sie über­prüfen dann, ob wir ankom­men und alarmieren die Polizei, wenn etwas nicht stimmt oder wenn wir ver­schwinden.

Schlep­per ver­suchen laufend mit Fehlin­for­ma­tio­nen die Polizei und die Küstenwachen zu täuschen. Aber den Helfer_innen ver­traut die Polizei. Ihre Infor­ma­tio­nen stim­men und sie kön­nen außer­dem auf Türkisch oder Griechisch mit der Polizei tele­fonieren. Die Polizist_innen kön­nen meis­tens kein Englisch, erst recht nicht Ara­bisch oder Far­si.

Eine Empfehlung: die Doku #myescape mit Handy-Videos & ‑Fotos von den Reisen.
https://www.youtube.com/watch?v=bB3WdudI0L0

Unsere Informationsbörsen und ihre Grenzen

Bevor wir aus dem Libanon aufge­brochen sind, hat ein­er unser­er Brüder Wochen und Monate lang sechzehn Face­book-Seit­en ver­fol­gt. Sein Lap­top war ein Kon­trol­lzen­trum. Er hat alles gesam­melt: Kon­tak­te, Empfehlun­gen und War­nun­gen, Namen von Hotels, Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen und wichti­gen Plätzen, Karten. Er hat selb­st auf den Seit­en kom­men­tiert, Fra­gen gestellt und dann auf What­sApp wei­t­er­disku­tiert.

All das sind die selb­stor­gan­isierten Foren, auf denen unglaublich viele Men­schen ständig Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen, Tre­ff­punk­te aus­machen, Tipps geben oder War­nun­gen posten. So wird stündlich aktu­al­isiert, wie die Lage etwa an der türkischen Küste aussieht, in Athen, an der griechisch-maze­donis­chen oder an der ser­bisch-ungarischen Gren­ze.

Wir hat­ten uns über eine dieser vie­len Seit­en einen Tre­ff­punkt mit anderen Reisenden aus­gemacht. Es gab einen Tag und Ort, um in ein­er größeren Gruppe die näch­ste Etappe über den Balkan anzuge­hen. Es ist nicht gut, alleine oder in Kle­in­grup­pen die Balka­n­route in Angriff zu nehmen. Am 15. August hät­ten wir in Athen sein müssen. Wir haben es knapp nicht geschafft, weil wir zu lange auf Samos fest­ge­sessen sind. Aber das wäre so ein typ­is­ch­er Fall gewe­sen, wo Flüchtlinge sich über Face­book selb­st organ­isieren, um sicher­er unter­wegs zu sein.

Wenn man am Ende ein­er Zwis­ch­ene­tappe irgend­wo ein­trifft, sagen wir von der Tages­reise zwis­chen Athen und Thes­sa­loni­ki oder dem nächtlichen Marsch über die ser­bis­che Gren­ze nach Szeged, dann ist das erste, die aktuellen Infos für die näch­ste Etappe auf der richti­gen Face­book-Seite nachzule­sen. Das unter­lassen wir wahrschein­lich nur zwis­chen Bel­grad und Ungarn, weil uns die Schlep­per ein­schär­fen, die Handys aus­geschal­ten zu hal­ten. Ange­blich ver­wen­den die Ungarn Handy­or­tung um uns abz­u­fan­gen.

Auf Face­book schauen wir nach: Ist die näch­ste Gren­ze noch offen? Was ist in den let­zten vierundzwanzig Stun­den passiert? Welche Regeln gel­ten ger­ade?

Es kann gut sein, dass ein Plan nicht mehr rel­e­vant ist, den wir vorher hat­ten. Kon­tak­t­per­so­n­en sind ver­schwun­den, vielle­icht sind sie festgenom­men wor­den, mussten unter­tauchen oder sie haben ihre Tre­ff­punk­te ändern müssen. Die Regeln für Routen haben sich geän­dert. Die Hotels, in denen wir über­nacht­en woll­ten, sind über­füllt.

In einem Fall sind wir nach der maze­donisch-ser­bis­chen Gren­ze mehr als einen Tag um Papiere ange­s­tanden, mit denen wir legal Ser­bi­en durch­queren hät­ten kön­nen – ohne Erfolg. Wir haben dann etwas mehr für den Bus nach Bel­grad gezahlt, weil wir ille­gal gefahren sind. Es hätte noch lange gedauert, Papiere zu bekom­men.

Ohne Papiere kon­nten wir in Bel­grad nicht in eines der Hotels gehen, das emp­fohlen wurde. Wir mussten uns neu informieren, eine Nacht auf der Straße schlafen, dann ein Hotel find­en, in das wir ohne Papiere schlüpfen kon­nten, um ein­mal etwas zur Ruhe zu kom­men. Und wir mussten andere Schlep­perkon­tak­te recher­chieren, weil die über Social Media von früher Reisenden Emp­fohle­nen unter­ge­taucht waren.

Schlepper. Routen. Fluchthilfe

Im Hochsom­mer 2015 waren immer mehr Men­schen auf den Routen in der östlichen Ägäis und am Balkan unter­wegs. Die Regeln änderten sich. Viele von uns kon­nten manche Etap­pen ohne Schlep­per unternehmen. Zwei von uns sind im August unter­wegs gewe­sen, als am Balkan, in Öster­re­ich und Deutsch­land viele Wege geöffnet oder zumin­d­est vere­in­facht wur­den. Nur ein paar Wochen vorher mussten wir durch Maze­donien noch marschieren und Flüchtling­shil­fe war nicht nur ver­boten, son­dern wurde mit Strafen geah­n­det. Dann gin­gen Züge. Später ging nichts mehr.

In Ungarn war es immer furcht­bar und dann war diese Route ganz geschlossen. Wir sind knapp vor der Schließung der ungarischen Gren­ze noch durchgekom­men, als sich viele ohne Schlep­per auf den Weg gemacht hat­ten.

Ohne Schlep­per unter­wegs zu sein kostet jedoch auch viel. Es gibt andere Ungewis­sheit­en und andere Stra­pazen. Es kann schlim­mer aus­ge­hen als mit Schlep­pern. Den­noch gilt: Wenn ger­ade mehr geht, wenn Staat­en Züge und Busse organ­isieren, um uns schnell weit­erzube­fördern, brauchen wir die Schlep­per weniger.

Je mehr Fluchtwege geschlossen wer­den, desto abhängiger wer­den wir von Schlep­pern, desto gefährlich­er wird es für die Schlep­per und desto gefährlich­er wer­den die Schlep­per für uns.

Wir sind vor und wir sind nach dem Pakt zwis­chen der EU und Erdo­gan auf der Reise gewe­sen, als nun auch die Durch­querung der Türkei mit einem Jahr Gefäng­nis bestraft wor­den wäre, wenn sie uns aufge­grif­f­en hät­ten. In einem Fall waren wir deut­lich früher unter­wegs, als die Über­querung des Evros bzw. der Mar­it­sa noch eine real­is­tis­chere und übliche Route war. Wir sprechen vom Gren­zfluss zwis­chen der Türkei und Griechen­land, in dem genau­so wie im Meer viele Men­schen ertrunk­en sind.

Wir haben nie Schwim­men gel­ernt und sind beim ersten Ver­such damals geken­tert. Das passierte gle­ich nach dem Able­gen, weil ein paar Pas­sagiere in Panik geri­eten. Wir kon­nten uns an einem Bau­mast aus dem Wass­er ziehen. Ein Flüchtling hat dabei fün­f­tausend Dol­lar ver­loren. Von mehreren anderen wis­sen wir nicht, was mit ihnen passiert ist. Wir haben nur unser Handy ver­loren. Beim zweit­en Ver­such ist uns die Über­querung des Flusses gelun­gen.

Den ganzen Weg versteckt, aus der Heimat ferngesteuert

Nach dem Pakt mit Erdo­gan unter­wegs zu sein hieß, den gesamten Weg von Kur­dis­tan bis nach Öster­re­ich ver­steckt zu reisen. Die Organ­i­sa­tion aller unser­er Reisen ist unter­schiedlich ver­laufen, diese hat mit ein­er Kon­tak­t­per­son funk­tion­iert, die wir nur tele­fonisch kon­tak­tiert haben. Hier haben wir es mit einem anderen Typus von Fluchthelfern oder Schlep­pern zu tun. Das sind Leute, die wir nie tre­f­fen und mit denen wir nur über Viber, What­sApp oder Tele­fon kom­mu­nizieren.

Sie dirigieren uns über den gesamten Weg per pri­vat­en Kom­mu­nika­tion­skanal, organ­isieren alle Etap­pen, sagen uns, wo wir abge­holt wer­den, wohin wir marschieren müssen, wo wir uns ver­steck­en müssen und wann wir wieder aus Ver­steck­en her­auskom­men kön­nen. Sie über­set­zen uns aus der Dis­tanz, was die von ihnen organ­isierten lokalen Schlep­per sagen und was wir ihnen sagen wollen.

Zu zweit haben wir von Al Hasakah bis Wien pro Etappe neue Anweisun­gen über diesen Weg bekom­men, via Edirne, einen Fuss­marsch über die bul­gar­ische Gren­ze, dann Sofia und Bel­grad – wie zwei Pakete. In Öster­re­ich haben wir unsere Ver­wandten zu Hause angerufen und das aus­gemachte Hon­o­rar von rund fün­f­tausend Euro pro Per­son wurde an den Kon­takt in Al Hasakah aus­gezahlt. Auf dem ganzen Weg gab es kein Inter­net, alles ging ohne Social Media.

Aufbruch aus dem Iran

Wieder anders ist es in den Vorstädten von Isfa­han und Teheran, von wo wir uns als afghanis­che oder pak­istanis­che Flüchtlinge auf­machen. Zwis­chen unser­er Flucht aus Afghanistan und dem neuer­lichen Auf­bruch aus dem Iran liegen oft Jahre, die wir als Ille­gale in Arbeitssied­lun­gen arbeit­en. Hier wis­sen alle, wie und wo wir Schlep­per find­en.

Wir haben auch alle Kon­tak­te in Europa, die uns mit ihren Schlep­pern verbinden, wenn sie gut waren. Östlich von der Lin­ie Türkei, Syrien, Irak sind es die Bekan­nten und Ver­wandten in Europa oder Übersee, die unsere “Social Media”-Kontakte darstellen. Die Kom­mu­nika­tion läuft halt tra­di­tionell über das Tele­fon, nur wenn möglich über tango.me und Viber, um Geld zu sparen: Erzäh­lun­gen, was uns erwartet, Namen von Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen, Dör­fern, Straßen und Städten.

Ohne Inter­net und Social Media ver­han­deln wir vor Ort mit Schlep­pern, ver­suchen uns ein Bild von ihnen zu machen, sie einzuschätzen. Wir brauchen sie. Wir wären son­st nie durch die Wüste zwis­chen Nim­ruz und Bam gekom­men. Und wie sollen wir von Oru­miyeh über das Gebirge nach Van kom­men. In bei­den Fällen müssen wir nicht nur an Gren­z­sol­dat­en vor­bei, son­dern auch an den Ban­diten, die uns für Lösegeld gefan­gen nehmen und ver­schwinden lassen, wenn es nie­man­den gibt, der für uns etwas Geld trans­ferieren kann.

Auf der türkischen Seite des Gren­zge­birges zum Iran haben wir nun Inter­net, vielle­icht aber noch keine Smart­phones, keine Ahnung von Face­book oder nicht die aus­re­ichen­den Sprachken­nt­nisse, um ohne jene Schlep­per­or­gan­i­sa­tion auszukom­men, mit der wir bis hier­her in den Schat­ten des Ararat gekom­men sind.

Geldtransfers und Safe Offices

Aus­gaben unter­wegs sind Tick­ets für Züge, Busse, Flugzeug und Fähren. Wir zahlen Zim­mer in Hotels oder Absteigen. Wir zahlen die Schlep­per, die Plätze in Booten, auf der Lade­fläche von Pick-ups, in Autos, Bussen oder Liefer­wa­gen. Wir zahlen neue SIM-Karten, manch­mal neue Handys und Pow­er Packs. Aber wir wollen nie zu viel Geld bei uns tra­gen.

Schlep­per zahlt man bess­er nicht im Voraus. Wie also funk­tion­iert das? Wieder braucht es das Handy und entwed­er „Safe Offices“ oder Ver­traute, die deren Auf­gabe übernehmen. West­ern Union gibt es in Afghanistan, dem Iran oder Syrien nicht. Wir haben unser Geld bei der Fam­i­lie, Ver­wandten, unseren Fre­un­den wie bei Banken deponiert. Per Tele­fon melden wir uns, wenn wir etwas brauchen.

Den Geld­trans­fer übernehmen Organ­i­sa­tio­nen, die wir nicht durch­schauen kön­nen. Es wird nicht wie in Europa dig­i­tal über­wiesen son­dern in einem Büro irgend­wo im Iran, Syrien oder der Türkei etwas bar abgegeben und in einem anderen Büro an einem anderen Ort in der Türkei, Griechen­land oder Ser­bi­en bekom­men wir etwas aus­bezahlt.

Die Organ­i­sa­tion hat ihre eige­nen Wege, im Hin­ter­grund die Kon­ten abzu­gle­ichen. Büros sind in Seit­en­straßen. Es sind ein­fache kleine Geschäfte, von denen es viele gibt. Alle wis­sen, wo sie zu find­en sind. Es gibt afghanis­che Organ­i­sa­tio­nen, ara­bis­che, türkische usw.

Die Bezahlung von Schlep­pern geht meis­tens über diese Büros, die „Safe Offices“ genan­nt wer­den. Es gibt sie in den gle­ichen Seit­en­gassen Bodrums, Izmirs oder Athens, in denen wir die Schlep­per find­en und ihre angemieteten Quartiere find­en, in denen wir bis zum Auf­bruchssig­nal ver­sam­melt wer­den.

Natür­lich ver­suchen wir, unser Geld für die Über­fahrt in einem Safe Office zu hin­ter­legen, das wahrschein­lich nicht von der gle­ichen Organ­i­sa­tion betrieben wird, der unsere Schlep­per ange­hören. Nach Möglichkeit gehen wir nicht alleine hin, weil wir bere­its zehn­tausend Euro in bar bei uns tra­gen, der Preis für mehrere Per­so­n­en und eine Über­fahrt in einem voll­ge­füll­tem Schlauch­boot. Zwis­chen der Türkei und Griechen­land waren das im Som­mer 2015 tausend­fünfhun­dert Dol­lar pro Per­son.

Unsere Vertreibung, ihre Geschäftsgrundlage

Um nur ein­tausend Dol­lar kön­nte man ein ganzes Boot neu kaufen. Aber natür­lich wird Flüchtlin­gen keines verkauft. Selb­st wenn, wür­den die Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen es sofort zer­stören und uns zur War­nung zusam­men­schla­gen. Wir müssen für die Über­fahrt bezahlen. Die, die kein Geld haben, dür­fen manch­mal trotz­dem mit, wenn sie den Boot­skapitän übernehmen und das Gum­mi­boot auf Kurs Rich­tung griechis­ch­er Insel hal­ten.

Im Safe Office nimmt ein zehn­jähriger Junge das Geld für unsere Gruppe von sechzehn Per­so­n­en ent­ge­gen. Er zählt tausende Dol­lar unter Auf­sicht. Einen Com­put­er gibt es nicht. Auf einem ein­fachen Zettel wird ein Code gekritzelt, ein beliebiger Satz, den wir uns aus­suchen. Wenn wir sich­er auf Kos, Samos oder Les­bos angekom­men sind, geben wir mit einem Anruf im Safe Office und dem Auf­sagen des auf den Zettel gekritzel­ten Satzes das Geld an die Schlep­per frei. Bei anderen Etap­pen in der Türkei, Ser­bi­en, Bul­gar­ien und Ungarn läuft es ähn­lich.

Haben wir genug Geld, kön­nten wir nach diesem Sys­tem sog­ar mit gefälscht­en Pässen direkt von Athen aus nach Ams­ter­dam, Berlin oder Stock­holm fliegen. Ein Fre­und von uns hat es so geschafft, beim sieben­ten Ver­such mit sieben ver­schiede­nen gefälscht­en Pässen sieben ver­schieden­er Nation­al­itäten. Die Kosten sind da natür­lich hor­rend. Von uns kon­nte sich das nie­mand leis­ten.

Im gün­stigeren Fall liegt das Geld nicht in einem der undurch­sichti­gen Safe Offices son­dern bei Ver­wandten. Im schlechteren Fall geben wir Schlep­pern das Geld direkt im Voraus, etwa weil der Auf­bruch uner­wartet plöt­zlich ist und wir uns denken, dass wir vom Geld sowieso nichts hät­ten, wenn es in unseren Taschen am Grund des Meeres steckt.

Hey Bruder, was machst du? Kein Handy! Bitte, kein Handy. Vorzeigeflüchtlinge! Kein Handy.

In Öster­re­ich sind Smart­phone, Inter­net und Social Media noch mehr im Ein­satz als auf unseren Reisen. Zum einen wollen wir jet­zt mit unseren Fam­i­lien und Freund_innen reden. Manche von uns haben das unter­wegs in jed­er möglichen Sit­u­a­tion gemacht, andere haben das unter­lassen und nur nach den gefährlich­sten Etap­pen eine Nachricht geschickt.

Jet­zt sind wir in Sicher­heit und haben eine große Ungewis­sheit weniger. Außer­dem haben wir viel Zeit. Manche von uns verzweifeln, weil wir nichts zu tun haben und in vie­len Sit­u­a­tio­nen nichts tun dür­fen. Dann sind Smart­phones, YouTube-Videos, Spiele wichtig, um nicht ver­rückt zu wer­den. Akku­ladun­gen sind kein Prob­lem mehr und das Handy ist manch­mal die einzige Ablenkung von ein­er tris­ten Umge­bung und schlim­men Erin­nerun­gen.

Unter­wegs haben wir oft nur ein Handy für eine ganze Gruppe aufge­dreht gehabt und das näch­ste, wenn wieder eines leer war. Wir waren von Handys abhängig, um uns nicht zu verir­ren und um Kon­tak­te anrufen zu kön­nen. Jet­zt müssen wir uns die Handys nicht mehr teilen. Jet­zt muss unser eigenes unsere Unter­hal­tung übernehmen.

Manche von uns ver­fol­gen weit­er­hin die Face­book-Seit­en, die so etwas wie selb­stor­gan­isierte Medi­en­por­tale über die Lage in Syrien sind. Wir kom­men nicht los, obwohl die Nachricht­en grausam sind. Wir sehen YouTube-Videos vom Phos­pho­r­re­gen und wachen in der Nacht auf, weil wir wieder das Feuer im Traum auf uns her­ab­fall­en sehen. Immer öfter nehmen wir uns vor, nichts mehr über zu Hause zu lesen. Aber noch posten wir auf Face­book sel­ber aktuelle Berichte über den Krieg in Syrien.

Andere von uns haben schon lange zugemacht. Wir ver­wen­den Social Media nur mehr für die tagtäglichen Kon­tak­te hier, zur Kom­mu­nika­tion mit Freund_innen und natür­lich für das Kon­takt hal­ten mit unseren Brüdern und Schwest­ern, die es über Europa verteilt hat.

Auf dem Smart­phone sind jet­zt außer­dem mehrere Apps instal­liert, mit denen wir Deutsch und Englisch ler­nen, Sprach­pro­gramme und Apps, die uns mit anderen Kon­ver­sa­tion üben lassen. Wir hören Musik, schauen Filme, manch­mal aus unser­er Heimat, manch­mal von hier, um die Kul­tur ken­nen zu ler­nen und bess­er zu ver­ste­hen. Es gibt Reise­führer-Apps und Apps für Museen, Über­set­zung­spro­gramme und Lexi­ka.

Als wir am Helden­platz in der Men­schen­menge ges­tanden sind, waren unsere Smart­phones Lichter im Lichter­meer. Im The­ater­stück haben wir die Handys in ein­er Szene vorher schon ver­wen­det, um mit Licht­punk­ten in der Hand zu „Wien nur du allein“ zu tanzen.

Die Szene ist in den Work­shops auch daraus ent­standen, weil wir in Pausen sofort Musik mit einem Smart­phone gemacht und getanzt haben. Später hat sich die Szene bei Proben weit­er­en­twick­elt. Jemand aus unserem Ensem­ble hat im Scherz gerufen, „Hey, kein Handy, wir sind Vorzeige­flüchtlinge“.

Es ist komisch, wenn uns zum Vor­wurf gemacht wird, Handys zu haben. Ohne kom­men wir auf der Flucht nicht weit­er. Wir haben Schlep­pern von Syrien bis Öster­re­ich in etwa fün­f­tausend Euro zahlen müssen, vom Iran nach Öster­re­ich zehn- bis fün­fzehn­tausend. Was kostet dage­gen schon ein Smart­phone?

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