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Plattform-Sozialismus: Fluide Selbstverwaltung

Warum sollte abseits des Plat­tform-Kap­i­tal­is­mus nicht etwas Plat­tform-Sozial­is­mus möglich sein?
Dig­i­tale Plat­tfor­men des 21. Jahrhun­derts kön­nten dazu dienen, eine Selb­stver­wal­tung auf der Höhe der Zeit umzuset­zen. Große Kör­per­schaften wie Krankenkassen, ORF oder Unis ließen sich durch alle Teil­haben­den autonom selb­st regieren.

Für die Volksstimme,
Dezem­ber 2019

Unsere Zeit ken­nt den Begriff des Plat­tform-Kap­i­tal­is­mus. Seit Jahren existieren Begriff und Konzept eines Plat­tform-Koop­er­atismus. Da wäre es nahe­liegend, dass ein Begriff des Plat­tform-Sozial­is­mus Aus­gangspunkt von Debat­ten wäre.

Es gibt ihn nicht. Kein Ansatz, keine Debat­te, nicht ein­mal Neugi­er. Wieso das so ist, wäre keine unwichtige Fragestel­lung. An dieser Stelle soll es aber um die Skizze gehen, was das zum Beispiel sein kön­nte, das wir unter dem Vorze­ichen Plat­tform-Sozial­is­mus disku­tieren kön­nten.

AirBnB, Aliba­ba, Ama­zon … bis Zalan­do. Die unge­heuere Organ­i­sa­tion­sleis­tung großer Unternehmen ste­ht heute außer Zweifel. Das gilt auch für eine prekäre Aus­nahme im fett Ven­ture-kap­i­tal­isierten Plat­tform-Kap­i­tal­is­mus, die Wikipedia.

All den Plat­tform-Unternehmen ist das Inter­net die Plat­tform, auf der ihre dis­rup­tiv­en Geschäftsmod­elle auf­bauen. Die Real­ität der herrschen­den Plat­tfor­men enthält freilich eine Anklage: wieso so tur­bokap­i­tal­is­tisch.

An das Unbe­ha­gen sollte die Auf­forderung geknüpft wer­den, das Pro­duk­tions- und Dis­tri­b­u­tion­s­mit­tel Plat­tform anders zu denken als in der herrschen­den, zu Gig-Econ­o­my und Monop­o­lisierung führen­den Logik. Wieso nicht etwas mehr als nur alter­na­tiv­en Koop­er­atismus in der Nis­che denken. Wieso nicht plat­tform-sozial­is­tis­che Organ­i­sa­tion von Arbeit, von Pro­duk­tion, von Dien­stleis­tung durch alle Teil­haben­den wagen.

Selbstverwaltung und Resilienz

Vor über hun­dert Jahren schienen Rätesys­teme denkbar­er als heute. Selb­stver­wal­tung von Krankenkassen war unmit­tel­bar vorstell­bar, ohne Umweg über Repräsen­ta­tion via Kam­mern und Gew­erkschaft. Selb­stver­wal­tung ist für die Sozialver­sicherung immer­hin in der öster­re­ichis­ches Bun­desver­fas­sung geset­zlich ver­ankert.

Die Umset­zung seit ’45 blieb freilich vom Bild tat­säch­lich­er Mit­sprache und Mitbes­tim­mung der­maßen ent­fer­nt, dass ein Bewusst­sein der Selb­stver­wal­tung für die Masse der Ver­sicherten gar nicht existiert. Ein­griffe schwarzblauer Regierun­gen in die Selb­stver­wal­tung wer­den nicht als die Enteig­nung wahrgenom­men, die sie sind.

Wie viel resilien­ter wäre da eine plat­tform-sozial­is­tisch seb­stver­wal­tete Sozialver­sicherung, die auf eine Plat­tform zurück­greift, die Ver­sicherte und für das Unternehmen Arbei­t­ende vere­int.

Alle Teil­haben­den auf ein­er Plat­tform? Was würde die Selb­stver­wal­tungsplat­tform etwa ein­er Sozialver­sicherung zu ein­er solchen kon­sti­tu­ieren, welche Funk­tio­nen sollte sie haben. Und nicht nur die der Sozialver­sicherung son­dern auch jede der öffentlich-rechtlichen Rund­funko­r­gan­i­sa­tion, der Unis, des sozial­isierten Telekom-Anbi­eters, Wass­er- oder Stromver­sorg­ers, der Wohn­baugenossen­schaft oder Gemein­de­baut­en, der ÖBB oder Wiener Lin­ien usw.

Vier Säulen fluider Selbstverwaltung

Eine Organ­i­sa­tion wie die Uni Wien stellt für alle Teil­haben­den bere­its seit langem Accounts zur Ver­fü­gung. Am E‑Mail-Korb hän­gen weit­ere Funk­tio­nen. Die dig­i­tale Infra­struk­tur wird von der Uni selb­st gestellt. Die Geschichte des Inter­nets in Öster­re­ich hat hier ihren Aus­gang genom­men.

Über die Jahre und Jahrzehnte kom­men Funk­tio­nen hinzu, die am eige­nen Benutzer*innen-Konto hän­gen. Spie­len wir das weit­er und nehmen zusät­zlich an, dass alle Teil­haben­den das unab­d­ing­bare Recht auf einen Account und gle­ich­berechtigten Zugang zu allen zen­tralen Funk­tio­nen der Selb­stver­wal­tung haben.

Als Teil­habende seien definiert, alle Arbei­t­en­den, ob in Pro­duk­tion oder Ver­wal­tung, ob unbe­fris­tet angestellt oder tem­porär als atyp­isch Beschäftigte, alle Nutzer*innen, Beitragszahlen­den oder ihren Beitrag via Arbeit für die Organ­i­sa­tion Leis­tende. Vier Säulen seien als zen­trale Funk­tio­nen der plat­tfor­munter­stützen Selb­stver­wal­tun­gen definiert:

  • Erstens die Säule der Delib­er­a­tion, die Möglichkeit mit anderen Beziehun­gen zwis­chen Benutzer*innen-Konten einzuge­hen, Nachricht­en auszu­tauschen, in Diskus­sions­foren zusam­men­zukom­men, Arbeits­grup­pen zu bilden, Dia­log zu führen.
  • Zweit­ens die der Kon­trolle. Das Berichtswe­sen wäre ent­lang der Zeitleiste flu­id und nicht auf finanzielle Angele­gen­heit­en beschränkt. Was und in welch­er Form, im Sinne von checks‘and‘balances, zwis­chen Organ­i­sa­tion­steilen und den Teil­haben­den an Feed­backschleifen ein­gerichtet ist, wäre aus der Ver­fas­sung abgeleit­et, die sich die Organ­i­sa­tion sel­ber gibt.
  • Drit­tens die Säule, in der strate­gis­chen Entschei­de fall­en, so wie Genossen­schaften, Vere­ine oder AGs von Zeit zu Zeit Grundle­gen­des in ihren Gen­er­alver­samm­lun­gen zur Abstim­mung brin­gen. Nur dass im Plat­tform-Sozial­imus die Vol­lver­samm­lung aller Teil­haben­den zu jed­er Zeit via Plat­tform über Szenar­ien abstim­men kann, die zuvor durch die Säulen eins und zwei gegan­gen sind.
  • Viertens die Säule per­son­eller Beset­zun­gen. In einzel­nen anste­hen­den Fällen ist dazu nicht die Vol­lver­samm­lung zu bemühen. Ein jew­eils per Zufall über die Plat­tform bes­timmtes Wahlper­so­n­en-Kom­mi­tee von tausend Per­so­n­en sollte aus den Kandidat*innen auswählen.
    Die Zufall­sauswahl wird durch Quoten struk­turi­ert, die je nach statu­tarisch­er Ver­fas­sung der Organ­i­sa­tion Geschlecht, Einkom­men, Bil­dungsab­schlüsse, Alter, Region, Funk­tio­nen in der Organ­i­sa­tion usw. betr­e­f­fen.

Andere digitale Architekturen sind möglich

Eine dig­i­tale Plat­tform dieser Funk­tion­al­ität mit mehreren Hun­dert­tausend oder Mil­lio­nen Benutzer*innen-Profilen, wenn wir an die Selb­stver­wal­tung eines ORF oder der Sozialver­sicherung denken, wäre gle­icher­maßen rev­o­lu­tionär wie prag­ma­tisch nahe­liegend. Sie ist nichts eigentlich Beson­deres, gemessen an der Real­ität beste­hen­der Social Media-Plat­tfor­men.

Außergewöhn­lich wäre der Zweck. Ein­mal nicht Dis­rup­tion beste­hen­der Geschäftsmod­elle zur Senkung der Pro­duk­tion­skosten und zur Schaf­fung neuer Mono­pole, son­dern die sozial­is­tis­che Selb­stor­gan­i­sa­tion von Daseinsvor­sorge in vie­len großen autonomen Kör­per­schaften. Damit mehr Autonomie von Staat und Kap­i­tal.

Die dig­i­tale Plat­tform ist die gerin­gere Her­aus­forderung. Die Rev­o­lu­tion würde sich in den Beziehun­gen zwis­chen Men­schen und Men­schen­grup­pen, der Kul­tur von Organ­i­sa­tio­nen, in den Herrschaftsver­hält­nis­sen abspie­len. Die Plat­tform ist schließlich nur Pro­duk­tion­s­mit­tel. Organ­i­sa­tio­nen wür­den sich dage­gen von Grund auf ändern und auf allen Ebe­nen. Das erk­lärt sich im Begriff bere­its von selb­st. Sozial­is­tis­che Selb­stver­wal­tung ist für sich genom­men rev­o­lu­tionär, ob mit dig­i­taler Plat­tform oder à la neun­zehntes Jahrhun­dert.

Im Plat­tform-Sozial­imus wäre der Demos, der die Herrschaft über die Organ­i­sa­tion von etwas ausübt, über stetige dig­i­tale Teil­habe kon­sti­tu­iert, nicht über repräsen­ta­tive Wahlen alle paar Jahre. Das bedeutet eben­so Hür­den wie auch mehr Inklu­sion. Den dig­i­tal gap wird es nie nicht geben. Bil­dung wird immer rel­e­vant bleiben. Abge­baut wür­den dafür andere Auss­chlüsse.

Wenn alle Sozialver­sicherung Zahlen­den automa­tisch und gle­ich­berechtigt dem rel­e­van­ten Demos zuge­hörten, der über die Selb­stver­wal­tung bes­timmt, haben automa­tisch die staats­bürg­er­lichen Priv­i­legien, Migra­tionsh­in­ter­grund, Ver­mö­gen und Einkom­men deut­liche weniger Ein­fluss.

Im Bin­nenge­füge der plat­tform-sozial­is­tisch regierten Kör­per­schaft ver­schieben sich Pri­or­itäten. Einge­führt, aus­geweit­et und aufgew­ertet wer­den muss die Mod­er­a­tion der Viel­stim­migkeit. Infor­ma­tion muss kuratiert, über­set­zt und in auf­bere­it­eten For­men dargestellt wer­den. Die Form der Kom­mu­nika­tion, das Gespräch, muss sich von exk­ludierend auf inklu­siv verän­dern.

Das Arbeits­feld der Mod­er­a­tion rückt quan­ti­ta­tiv und qual­i­ta­tiv ins Zen­trum der Kör­per­schaften. Der Zweck der Selb­stver­wal­tung struk­turi­ert die Kom­mu­nika­tion. Obwohl auch sozial­is­tis­che Plat­tfor­men soziale Net­zw­erk-Funk­tio­nen wie Twit­ter oder Face­book haben, geht es auf ihnen nicht um nichts oder alles, son­dern um eine greif­bare gemein­same Sache.

Nach außen bekommt diese gemein­same Sache das Gewicht, dass eine Organ­i­sa­tion ausspie­len kann, die nicht auf Lob­by­is­mus, Klien­telverbindun­gen und Wer­bung set­zen muss, son­dern mehrere hun­dert­tausend Nutzer*innen auf ein­er autonomen Plat­tform ver­sam­melt.

Soll die aktive Teil­habe auf ein­er Plat­tform ruhig bei nur 3% liegen. Das wären immer noch sehr viele Aktive. Und es wür­den schnell mehr, sobald es um die allen eige­nen Inter­essen geht.

Autonome und offene digitale Architektur

Selb­st wenn die eigentliche Hürde die men­schliche Organ­i­sa­tion ist, auch die dig­i­tale Architek­tur wird nicht über Nacht pro­gram­miert wer­den kön­nen. Irgend­wo muss ein Anfang gemacht wer­den. Irgend­wann sollte Plat­tform-Sozial­imus bedeuten, dass die Grun­dar­chitek­turen unser­er Plat­tfor­men pub­lic code sind und dass die Dig­i­tal­wirtschaft ein völ­lig neues, bedeu­ten­des Betä­ti­gungs­feld gewin­nt, in dem es um freie Soft­ware vom Serv­er bis zur App, um liq­uid-feed­back-Sys­teme, um inklu­sive Architek­turen und sorgsamen, sparsamen Ein­satz per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en geht.

Sozial­is­tis­che Selb­stver­wal­tung auf der Höhe des 21. Jahrhun­derts kann nur heißen, dass die Teil­haben­den die Kon­trolle über Dat­en und Code haben. Die Arbeit von Informatiker*innen und Systemadministrator*innen ist hier so zen­tral wie die oben ange­sproch­ene Arbeit der Mod­er­a­tion.

Es braucht eine eigene Spezial­isierung, eigene Serv­er, eige­nen Code. Dafür gibt es Vor­läufer. Liq­uid feed­back Soft­ware nach dem Konzept von liq­uid democ­ra­cy. Dezen­trale Social-Media-Architek­turen in freier Soft­ware. Eine lebendi­ge Tra­di­tion der Net­zkul­tur, die gegen Überwachung und Kom­mod­i­fizierung kämpft.

Und eine Kleinigkeit.

Die poli­tis­che Forderung, machtvoll, dass wir die Kör­per­schaften unser­er Daseinsvor­sorge sel­ber ver­wal­ten wollen.

Das Recht dazu haben wir.

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