hcv

SoZi 16|09: das Ende der Zivilisation (durch den christlichen Mob)

Das Ende ein­er Zivil­i­sa­tion … oft beschworen und oft nichts als Wel­tun­ter­gangsstim­mung bzw. die schmer­zlich wer­tende In-Eins-Set­zung von Schwellen­zeit­en strukurellen Wan­dels mit dem Abge­sang an eine “gute alte”, eine bessere Gesellschafts­form.
(Siehe neben­bei das Ende des SoZi 14|09 für eine Kri­tik dieses Fatal­is­mus.)

Nichts desto trotz muss men­sch nicht unbe­d­ingt die Augen davor ver­schließen, dass in der Men­schheits­geschichte immer wieder Zivil­i­sa­tio­nen ihr Ende gefun­den haben …
in this case …:

Euk­lid war der erste große Math­e­matik­er in ein­er lan­gen und unglück­licher­weise irgend­wann zu Ende gegan­genen Rei­he von Gelehrten, die in Alexan­dria arbeit­eten. [..]

Ein Sohn des Ptole­meios, der — wenig fan­tasievoll — den gle­ichen Namen trug, bestieg als Ptole­meios II. den Thron und ließ eine gewaltige Bib­lio­thek mit einem Gebäude bauen, das er zu Ehren der Musen mouseíon nan­nte. Das mouseíon war wed­er ein Musen­tem­pel noch ein Muse­um, son­dern ein Forschungsin­sti­tut: die erste staatlich geleit­ete Ein­rich­tung dieser Art.

Die Nach­fol­ger Ptole­meios I. sam­melten Büch­er und entwick­el­ten ziem­lich inter­es­sante Meth­o­d­en, um in ihren Besitz zu gelan­gen. So »bestellte« Ptole­meios II. die erste griechis­che Über­set­zung des Alten Tes­ta­ments, indem er siebzig jüdis­che Gelehrte auf der Insel Pharos als Geiseln ins Gefäng­nis warf, um sie gegen das Werk auszu­tauschen. Ptole­meios III. schrieb alle Herrsch­er der Welt an, um sich von ihnen Büch­er zu »lei­hen«, die er dann behielt. ((Die Athen­er liehen Ptole­meios III. kost­bare Manuskripte von Euripi­des, Ais­chy­los und Sophok­les. Ptole­meios behielt die Schriften, war aber immer­hin so großzügig, Kopi­en anzufer­ti­gen und nach Athen zu schick­en. Die Griechen müssen darüber nicht son­der­liche über­rascht gewe­sen sein: Sie hat­ten einen erhe­blichen Betrag als zusät­zliche Leis­tung erbeten und auch erhal­ten. Vgl. Durant, Will: The Life of Greece, New York 1966, S. 601)) Dieses Beschaf­fungssys­tem funk­tion­ierte außeror­dentlich gut: Die Bib­lio­thek von Alexan­dria umfasste — je nach Quelle — zwis­chen 200.000 und 700.000 Papyrus­rollen, die fast das gesamte Wis­sen der damili­gen Zeit repräsen­tieren.
Mit der Bib­lio­thek und dem mouseíon wurde Alexan­dria das intellek­tuelle Zen­trum der Welt [..]. Bei einem Rank­ing aller akademis­chen Ein­rich­tun­gen in der Geschichte der Men­schheit würde Alexan­dria wohl New­tons Cam­bridge, das Göt­tin­gen von Gauß und das Insti­tute for Adv­vanced Study von Albert Ein­stein in Prince­ton au fdie Plätze ver­weisen. Ver­mut­lich forscht­en alle griechis­chen Math­e­matik­er und Natur­wis­senschaftler nach Euk­lid irgend­wann in dieser unglaublichen Bib­lio­thek.
Um 212. v. Chr. gelang es Eratos­thenes von Kyrene — dem Chef­bib­lio­thekar Alexan­drias, der sich wohl nie mehr als ein paar hun­dert Kilo­me­ter von der Stadt weggewagt hat­te — den Erdum­fang zu bes­tim­men. ((Kline, Mor­ris: Math­e­mat­i­cal Thought from Ancient to Mod­ern Times, New York 1972, S. 160f.)) Seine Rech­nun­gen waren für seine Zeigenossen eine Sen­sa­tion, zeigten sie doch, welch gerin­gen Teil des Plan­eten man damals erst kan­nte. [..]

Der Bib­lio­thekar war nicht der einzige Gelehrte in Alexan­dria, der wesentliche Beiträge zum Ver­ständ­nis des Kos­mos lieferte. Aristar­chos von Samos komninierte auf geniale Weise die Trigonome­trie mit einem ein­fachen Mod­ell der Him­mel­skör­p­er und kon­nte so mit­beachtlich­er Genauigkeit die Größe des Mon­des und seinen Abstand von der Erde bes­tim­men. Als erster Vetreter eines heliozen­trischen Sys­tems eröffnete er den Griechen eine neue Per­spek­tive auf die Stel­lung des Men­schen im Uni­ver­sum.
Ein weit­er­er Star unter Alexan­drias Wis­senschaftlern war Archimedes. Er wurde in Syrakus auf Sizilien geboren und reiste nach Alexan­dria, um dort an der königlichen Schule Math­e­matik zu studieren. [..]

Mit dem Werk des Hip­par­chos von Nika­ia im 2. Jahrhun­dert v. Chr. und dem des Klau­dios Ptole­meios im 2. Jahrhun­dert n. Chr. erre­ichte nach der Math­e­matik auch die Astronomie in Alexan­dria einen Höhep­unkt. ((ebd., S. 154–160)) [..]
In sein­er Geo­grapheía beschrieb Ptole­meios die damals bekan­nte Welt. [..]

Ein weit­eres Buch, das über die Rückschritte (der christlichen) Epoche Zeug­nis ablegt, schrieb um 550 ein weit gereis­ter Kau­mann aus Alexan­dria names Kos­mas Indiko­pleustes. Dort heißt es: »Die Erde ist flach. Der bewohnte Teil hat die Form eines Rechtecks, dessen Länge dop­pelt so groß ist wie seine Bre­ite. … Im Nor­den liegt ein konisch geformtes Gebirge, hin­ter dem Sonne und Mond zurück­kehren.« Das zwölf­bändi­ge Werk mit dem Titel Topographia Chris­tiana beruhte wed­er auf Beobach­tun­gen noch auf der Ver­nun­ft, son­dern einzig auf der Heili­gen Schrift: ein Buch, das man gut zwis­chen zwei Schluck­en römis­chen Weins lesen kon­nte und das bis ins 12. Jahrhun­dert auf der Best­seller-Liste blieb, als die Römer schon längst Geschichte waren. ((Kline, Mor­ris: Math­e­mat­ics in West­ern Cul­ture, Lon­don 1953, S. 89))

Die lange Rei­he der großen Gelehrten, die in der Bib­lio­thek von Alexan­dria arbeit­eten, endete mit Hypa­tia, der ersten Gelehrtin, deren Geschichte uns über­liefert ist. ((Zur Geschichte der Hypa­tia vgl. Dziel­s­ka, Maria: Hypa­tia of Alexan­dria, Cam­bridge 1955 und Lefkowitz, Mary R.: Die Töchter des Zeus, München 1999, S. 130–133)) Sie wurde um 370 als Tochter des berühmten Math­e­matik­ers und Philosophen Theon in Alexan­dria geboren. Theon unter­richtete seine Tochter in Math­e­matik und machte sie zusein­er eng­sten Mitar­bei­t­erin. Damask­ios, ein­er ihrer früheren Stu­den­ten, der das Leben des Philosophen Isidoros ver­fallte und als schar­fer Kri­tik­er galt, schrieb, sie sei von Natur aus scharf­sin­niger und tal­en­tiert­er als ihr Vater gewe­sen. Ihr Schick­sal und dessen all­ge­meine Bedeu­tung wur­den über die Harhun­derte oft disku­tiert und sowohl von Voltaire als auch in Gib­bons Unter­gang des römis­chen Wel­tre­ichs erwäh­nt.

Am Ende des 4. Jahrhun­derts zählte Alexan­dria zu den Hochbur­gen des Chris­ten­tums. Das führte zu hefti­gen Kämpfen zwis­chen den Repräsen­tan­ten der Kirche und denen des Staates um Macht und Ein­fluss. Darüber hin­aus kam es zu zahlre­ichen Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen Chris­ten und Nichtchris­ten — etwa den griechis­chen Neu­pla­tonikern oder den Juden. 391 stürmte der christliche Mob den noch beste­hen­den Teil der Bib­lio­thek von Alexan­dria und bran­nte ihn fast völ­lig nieder. [..]
Hypa­tia berif sich auf das griechis­che Erbe bis zurück zu Pla­ton und Pythago­ras, nicht jedoch auf die christliche Kirche. [..] Stu­den­ten aus Rom, Athen und anderen großen Städten des Imperi­ums kamen nur ihretwe­gen nach Alexan­dria. [..] Hypa­tia brachte den Mut auf, ihre Vor­lesun­gen fortzuset­zen, obwohl Kyrill (Erzbischof von Alexan­dria) und seine Anhänger Gerüchte ausstreuten, sie sei eine Hexe, betreibe schwarze Magie und würde satanis­che Zauber­sprüche über die Men­schen der Stadt ver­hän­gen.
Vom Fort­gang der Geschichte gibt es ver­schiedene, aber ähn­liche Ver­sio­nen. An einem Mor­gen inder Fas­ten­zeit des Jahres 415 bestieg Hypa­tia ihre Kutsche, um nach Hause zu fahren. Einige Hun­dert der Mar­i­onet­ten Kyrills, christliche Mönche aus einem Wüsten­kloster, stürzten sich auf sie, schlu­gen sie und schleppten sie zur Kirche. Dort zogen sie Hypa­tia nackt aus und sch­abten ihr mit Austern­schalen das Fleisch vom Leib. Danach ris­sen sie ihr die Glieder einzeln aus und ver­bran­nten die Über­reste. Nach einem anderen Bericht ver­streuten sie die Teile ihres Kör­pers über­all in der ganzen Stadt. Alle Schriften Hypathias wur­den ver­nichtet, nicht viel später auch die let­zten Reste der Bib­lio­thek. [..] Neue kaiser­liche Beamte ver­liehen Kyrill die Macht und den Ein­fluss, nach dem er gestrebt hat­te. Später wurde er sog­ar heilig gesprochen.

aus: Mlodi­now, Leonard (2001):
Das Fen­ster zum Uni­ver­sum. Eine kleine Geschichte der Geome­trie, S. 53f.

Ich geste­he, nein, ich bekenne, diese Pas­sage schon lange und schon oft hier abgetippt haben zu wollen.

Jedes­mal wenn im Zuge ein­er Debat­te über Chris­ten­tum, Kul­tur, Geschichte etc. das däm­liche Argu­ment kommt — und es kommt wie das Amen im Gebet -, dass das Chris­ten­tum doch gut wäre, viel Gutes getan hätte und immer noch tun würde und die Ver­brechen im Namen des Chris­ten­tums trau­rige Ver­fehlun­gen gewe­sen wären, die lange zurück lägen und der Papst hätte sich schließlich ganz klar entschuldigt und sowieso hät­ten die Ver­brechen im Namen des Chris­ten­tums nicht im eigentlichen Sinne etwas mit dem Chris­ten­tum zu tun hät­ten etc. … und “ich kenne viele Chris­ten, die gute Men­schen sind und man kann die nicht pauschal verurteilen” …

… ich ziehe mich schon lange aus solchen Diskus­sio­nen sofort zurück. Sinn­los.

Schreibe einen Kommentar

Basic HTML is allowed. Your email address will not be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.