Kategorien
kulturelles Gedächtnis SoZi

SoZi 17|09: ‘wie sollte man diese Erwachsenen da nicht verachten’

Bruno Latour, Michel Ser­res befra­gend. Ein Auss­chnitt gle­ich aus dem Beginn des ersten von fünf Gesprächen:

BL: … Meine erste Frage zielt (dem­nach) auf Ihren intellek­tuellen Bil­dungsweg. Sie schätzen die Diskus­sion nicht sehr; auch wenn Sie berühmt sind, wer­den Sie von Kol­le­gen nicht gut begrif­f­en, und Sie selb­st reden oft schlecht über diese Kol­le­gen, das muss man sagen. Was ist Ihnen auf Ihrem Bil­dungsweg so Schreck­lich­es zugestoßen, dass Sie so mis­strauisch gegenüber der Diskus­sion sind? Welche Ereignisse haben Sie zu dieser ein­samen Ausübung der Philoso­phie geführt?

MS: Meine Zeitgenossen wer­den sich in dem wieder­erken­nen, was ich zunächst zu sagen habe. Die unmit­tel­bare Leben­sumge­bung der­er, die wie ich 1930 geboren sind, ist die fol­gende: mit sechs Jahren der Krieg von 1936 in Spanien; mit neun Jahren der Blitzkrieg von 1939, die Nieder­lage und das Debakel; mit zwölf Jahren die Kluft zwis­chen den Wider­stand­skämpfern und den Kol­lab­o­ra­teuren, die Tragödie der Lager und der Depor­ta­tio­nen; mit vierzehn die Befreiung und die darauf fol­gen­den Abrech­nun­gen in Frankre­ich; mit fün­fzehn Hiroshi­ma; kurz, von neun bis siebzehn Jahren, während sich der Kör­p­er und die Sen­si­bil­ität bilden, herrschen Hunger und Rationierung, die Toten und die Bom­barde­ments, tausend Ver­brechen; sofort danach haben wir weit­ergemacht mit den Kolo­nialkriegen: in Indochi­na, in Alge­rien… Zwis­chen der Geburt und dem fün­fundzwanzig­sten Leben­s­jahr – dem Alter des Mil­itär­di­en­stes und von neuem des Krieges, denn es ging um Nordafri­ka, dann die Suez-Expe­di­tion – haben um mich herum, für mich, für uns, um uns herum nur Schlacht­en exisiert. Der Krieg, immer der Krieg… meine ersten Leichen habe ich mit sechs Jahren gese­hen, die let­zten mit sech­sundzwanzig. Habe ich damit Ihre Frage, was meine Zeitgenossen “mis­strauisch” gemacht hat, aus­re­ichend beant­wortet?

BL: Ja, in der Tat, zumin­d­est teil­weise.

MS: Die frühen Leben­s­jahre durch­lebt meine Gen­er­a­tion sehr schmerzhaft; die vorherge­hende Gen­er­a­tion ist zu Beginn dieser Ereignisse zwanzig und kann sie, da erwach­sen, aktiv erleben, man engagiert sich; während die meine sie nur aus der Pas­siv­ität und der Ohn­macht ver­fol­gen kann: als Kind, als Jugendlich­er, jeden­falls schwach und ohne Hand­lungsmöglichkeit­en. Die Gewalt, der Tod, das Blut und die Trä­nen, der Hunger, die Bom­badierun­gen, die Depor­ta­tio­nen tre­f­fen meine Alter­sklasse und ver­wun­den sie unwider­ru­flich, denn diese Schreck­en ereignen sich während ihrer kör­per­lichen und emo­tionalen Bil­dung. Meine Bil­dung reicht von Guer­ni­ca – ich kann mir das berühmte Gemälde von Picas­so nicht anse­hen – über Auschwitz bis Nagasa­ki. [..] Die erste Frau, die ich nackt gese­hen habe, war ein junges Mäd­chen, das von der Menge gelyncht und getötet wurde; diese tragis­che Erfahrung prägt nicht nur den Geist und die Fähigkeit zu vergeben, son­dern auch den Kör­p­er und die Sinne.
Ja, wenn ich Sein und Zeit lese, spüre ich darin die Vorkriegs­jahre, nicht mit dem Ver­stand und der Erin­nerung, son­dern physisch: ich empfinde unwider­stehlich den Geruch jen­er Jahre; fra­gen sie Men­schen meines Alters, die genau in diesem Moment in Frankre­ich gelebt haben, die später, in den Gym­nasien, die Hym­nen auf Mar­shall Pétain sin­gen mussten, bevor sie bei den Feiern zum Tag der Befreiung zu Ehren der Résis­tance marschierten, immer flankiert von den sel­ben Erwach­se­nen – wie sollte man diese nicht ver­acht­en, wie sollte man nicht mit zehn Jahren schon alt wer­den und erfahren oder weise an ihrer Stelle? –, fra­gen Sie sie doch, ob sog­ar heute noch in diesem oder jenen Fall ihre Nasen­flügel nicht unmit­tel­bar vor Ekel zu beben anfan­gen.

Ser­res, Michel (2008 [1992]):
Aufk­lärun­gen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, S. 8f.

… gewid­met den Vertei­dgern des Her­rn Dön­mez und wilden Angreifern der, wie sie es sehen und nen­nen, The­o­retik­ern und Sprach­philosophen, die “effi-bash­ing” betrieben, in dem sie Her­rn Dön­mez ras­sis­tis­che Aus­sagen kri­tisierten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.