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Reiseziel Europa

Wir, die wir Fotos vom Meer und von Märschen durch Mazedonien auf unseren Handys haben

Fünf New­com­er erzählen vom Weg nach Europa, von der Bedeu­tung, die Smart­phones und Social Media für sie hat­ten, warum Viber, What­sApp oder tango.me wichtig sind und welche Rolle manche Apps jet­zt auf ihren Handys spie­len.

Erschienen in Stimme — Zeitschrift der Ini­tia­tive Min­der­heit­en 98, Früh­ling 2016
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☛ zu bestellen unter: abo@initiative.minderheiten.at

 

Wir haben unter­schiedlich lange Wege hin­ter uns. Wir sind über ver­schiedene und doch ähn­liche Fluchtrouten in Öster­re­ich angekom­men. Auf die Frage, woher wir kom­men, sagen wir kurz Afghanistan oder Syrien. Aus Traiskirchen haben wir es alle her­aus­geschafft, aber unsere Ver­fahren laufen und für diesen Artikel haben wir uns auf die Wir-Form geeinigt, ohne unsere Namen zu nen­nen.

Uns zu tre­f­fen und ken­nen­zuler­nen ist trotz­dem ein­fach und wir freuen uns. Seit dem Spät­som­mer 2015 – vier von uns fünf sind da ger­ade erst angekom­men – spie­len wir gemein­sam mit vie­len anderen unser­er Brüder und Schwest­ern The­ater: „Schutzbe­foh­lene per­for­men Jelineks Schutzbe­foh­lene“.

Über die The­ater-Work­shops in Traiskirchen vor dem Lager haben wir uns ken­nen­gel­ernt. Seit diesen Tagen im August 2015 nutzen wir eine geheime Face­book-Gruppe für die interne Kom­mu­nika­tion und zur Inte­gra­tion neuer Ensem­blemit­glieder. Der aktuelle Mit­glieder­stand zeigt neu­nund­sechzig Per­so­n­en, vier davon sind neu aus der let­zten Woche.

Alle Kontakte, die wir noch haben

Ohne die Plat­tform auf Face­book hät­ten sich manche von uns schon in den ersten Wochen und Monat­en ver­loren, als immer wieder ohne Vor­war­nung Ver­legun­gen in andere Flüchtling­sun­terkün­fte durchge­führt wur­den.

Die Tele­fon­num­mer ist weniger ver­lässlich als Social Media Plat­tfor­men. Ist das Handy weg, find­en wir ver­mis­ste Freund_innen kaum über Tele­fon­num­mern, die an neu gekaufte SIM-Karten gekop­pelt sind. Wir haben Kon­takt, weil wir auf Face­book, What­sApp und Viber verknüpft sind.

In der Face­book-Gruppe wer­den neben Probezeit­en und Tre­ff­punk­te für die Vorstel­lungstage natür­lich auch andere nüt­zliche Infos gepostet: zu Deutschkursen, über Apps zur Ori­en­tierung, kosten­lose Ange­bote. Irgend­wann stand da die Ein­ladung an Inter­essierte, gemein­sam einen Artikel für die STIMME zu entwer­fen, gepostet von einem unser­er Fre­unde von der Schweigen­den Mehrheit.

Solche Post­ings muss jemand über­set­zen, von Deutsch und Englisch auf Far­si und Ara­bisch. Als Reak­tion gepostete Kom­mentare brauchen wieder Übersetzer_innen, die Antworten oder Rück­fra­gen auf Englisch oder Deutsch ver­ständlich machen. Automa­tis­che Über­set­zung­spro­gramme helfen sel­ten, bei Ara­bisch scheit­ern die besten.

Smi­leys und Stick­er bilden dage­gen eine lin­gua fran­ca. Wir machen reich­lich Gebrauch von ihnen. So lässt sich nicht nur mit einem Lächeln Fre­undlichkeit aus­drück­en, son­dern auch eine fra­gende oder zus­tim­mende Geste, für die es keine Über­set­zung braucht.

Ja, etwas schreiben will ich gern. Wie wir was nutzen? Soll ich sel­ber schreiben und du über­set­zt oder schreiben wir gemein­sam? Und ich habe noch nicht genau ver­standen, was meinst du, was brauchen wir genau?

Was heißt Social Media? Ah! Ja, das ist wichtig

Die meis­ten von uns haben keinen “Social Media”-Begriff. Wir nutzen Face­book. Wir nutzen What­sApp. Täglich. Stündlich. Ja, auch YouTube. Was noch? Viber, Skype, tango.me. Wichtig ist Google Maps, ob auf den Fluchtrouten oder jet­zt in Wien. Aber das wichtig­ste ist das Handy. Ohne Handy geht gar nichts. Dazu ein stark­er Pow­er Pack, um den Akku mehrmals nach­laden zu kön­nen. Eine SIM-Karte. Ja, das ist alles wichtig.

Ok, we can talk about all that, let’s meet, write me on Face­book when.

Wir haben uns dann ein paar Mal in ver­schiede­nen Kon­stel­la­tio­nen getrof­fen. Fünf New­com­er und ein hier Geboren­er von der Schweigen­den Mehrheit. Manche von uns haben zur Vor­bere­itung ihre Über­legun­gen schon auf Deutsch struk­turi­ert und abgetippt, ein gutes Train­ing beim Sprache Ler­nen. Es gab ein langes Gespräch zu viert, das wir aufgenom­men haben, in Englisch, Ara­bisch und ein biss­chen Deutsch. Für Far­si sind wir zweimal zu dritt zusam­menge­sessen. Es gab Einzelge­spräche, wir haben Nachricht­en über Face­book aus­ge­tauscht und uns schlussendlich abge­sprochen, ohne alle Tele­fon­num­mern oder E‑Mail-Adressen voneinan­der zu haben.

19 Seit­en hat das Google Doc, in das alles einge­flossen ist. Zu viel um alles zu präsen­tieren. Fan­gen wir mit unseren unter­schiedlichen Aus­gangssi­t­u­a­tio­nen an.

Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling

Wir kom­men aus dem Euphrat-Tal im Osten Syriens und wir kom­men aus dem kur­dis­chem Gebi­et nordöstlich davon. Wir kom­men aus Damaskus. Wir kom­men aus ein­er Prov­inz im Zen­trum Afghanistans. Und wir kom­men aus ein­er Sied­lung etwas außer­halb Teherans, in der geflo­hene Afghan_innen harte Jobs machen müssen.

Wir sind mit 13 Jahren aufge­brochen, zuerst Rich­tung Kab­ul und dann in den Iran geflüchtet.

Wir haben uns aus Syrien in den Libanon und eine Zeit lang dort durchgeschla­gen, bis wir keine andere Option mehr als Europa hat­ten.

Wir sind, wie schon dutzende Male zuvor, zu Ver­wandten auf die türkische Seite der Gren­ze gefahren und dann unter­ge­taucht, weil die Türkei ger­ade begonnen hat­te, syrische Ver­triebene aufzu­greifen und festzunehmen.

Wir haben schon Jahre vor der endgülti­gen Reise für die Fam­i­lie Fluchtop­tio­nen von Ägypten aus erkun­det und sind schließlich über einen Stu­di­en­aufen­thalt in Nordzypern in die Türkei gelangt. Zu dem Zeit­punkt kon­nten syrische Flüchtlinge sich dort noch unbe­hel­ligt und legal fort­be­we­gen und wir haben einen Teil der Fam­i­lie aus dem vom IS kon­trol­lierten Gebi­et dort glück­lich getrof­fen.

Wir haben unter­schiedliche Bil­dungs­geschicht­en, Stu­di­en­ab­schlüsse eben­so wie nie eine Schulk­lasse von innen gese­hen und stattdessen in Fab­riken und Näh­stuben geschuftet, um das Geld für den Schlep­per von Afghanistan in den Iran zurück­zuzahlen und für die näch­ste Etappe nach Europa etwas anzus­paren. Wir hat­ten je nach unseren Hin­ter­grün­den dort, von wo wir aufge­brochen sind, ein freies Inter­net, ein zen­siertes oder gar keines.

Wir sind durch Städte gereist, in denen man die Schlep­per in Kaf­fee­häusern tre­f­fen kon­nte und durch andere, wo sie in einem Park unweit des Zen­trums zu find­en waren. Wir hat­ten Etap­pen, wo man die Verbindung über das Inter­net hergestellt hat.

Reiserouten nach Europa

Planung ist gut. Alles ist Kismet.

All diese Aspek­te – und noch ein paar mehr – bes­tim­men, welche Optio­nen wir haben um voranzukom­men, und ob wir mit Social Media bessere Karten haben oder nicht. Die Etappe, die wir ger­ade zu bewälti­gen haben, gibt die Optio­nen vor. Unsere Bil­dung und die Arbeitsmeth­o­d­en der Schlep­per geben die Optio­nen vor.

In Afghanistan sind viele von uns Analphabet_innen und im Iran gibt es ein streng zen­siertes Inter­net. In Syrien gibt es für jede anvisierte Stadt Face­book-Seit­en, auf denen hun­derte und tausende Men­schen auf Ara­bisch posten. Für Fluchtrouten aus Afghanistan und aus dem Iran gibt es das kaum.

Was ist das Nahe­liegende, wenn wir vor ein­er unbekan­nten Reise ste­hen? Wir kon­tak­tieren ver­traute Per­so­n­en, die die Reise bere­its gemacht haben. Wir fra­gen uns durch, bekom­men Kon­tak­te – auf Face­book, über What­sApp, Viber, Skype. Manche von uns ler­nen so Lesen und Schreiben. Oder wir bekom­men Tele­fon­num­mern.

So ist es sehr wahrschein­lich, dass Afghan_innen alle Etap­pen – bis zu denen inner­halb von Europa – über afghanis­che Fluchthil­fenet­zw­erke bewälti­gen. Kurd_innen ver­trauen kur­dis­chen Struk­turen, ara­bis­che Ver­triebene ara­bis­chen Net­zw­erken. Das bringt die Sprache mit sich, die famil­iären Kon­tak­te sowie die Fre­un­des- und Bekan­ntenkreise.

Noch mehr wer­den unsere Optio­nen aber von der aktuellen poli­tis­chen Lage bes­timmt. Die Regeln, die an der jew­eili­gen Gren­ze gel­ten, die Routen, die wir nehmen kön­nen, alles kann sich von Tag zu Tag ändern. Und nicht nur Poli­tik, Polizei und Mil­itär, auch die Topolo­gie, Net­z­ab­deck­ung oder die Ver­füg­barkeit von Steck­dosen bes­timmt mit.

Manch­mal gibt es Steck­dosen, aber es sind zu wenige. Manch­mal kostet ein­mal Handy-Aufladen zwei Euro (ein­mal Pow­er Pack-Laden vier Euro) und manch­mal – auf dem zehn­tägi­gen Marsch durch Maze­donien – haben wir an men­schen­leeren Hal­testellen immer Stromk­a­bel gesucht, freigelegt, von der Isolierung befre­it und mit eige­nen Dräht­en so mehrere unser­er Handys gle­ichzeit­ig aufge­laden.

Drei Arten von Online-Angeboten via Facebook & Co

Bei der Recherche im World Wide Web ist Face­book tat­säch­lich die wichtig­ste Plat­tform. Für jede Etappe jed­er Fluchtroute gibt es Seit­en und Grup­pen in mehreren Sprachen. Auf Ara­bisch find­en wir mehr als auf Far­si. In Syrien sind Face­book-Seit­en pro Stadt und Prov­inz die wichtig­sten Anlauf­stellen – nicht nur für Infor­ma­tio­nen zu Fluchtrouten, son­dern auch, um die Kriegslage einzuschätzen. Alle nutzen Face­book: die Schlep­per, die Islamis­ten, die zivilge­sellschaftlich engagierten Fluchthelfer_innen und wir.

Wir kön­nen daher drei Arten von Seit­en auf Face­book unter­schei­den:

  • Es gibt solche, auf denen die Schlep­per ihre Ange­bote und Leis­tun­gen bewer­ben.
  • Es gibt Seit­en, die von Aktivist_innen betrieben wer­den, die ein­fach helfen.
  • Und es gibt als dritte Kat­e­gorie die selb­stor­gan­isierten Grup­pen, in denen alle jene, die ger­ade unter­wegs sind, Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen und gemachte Erfahrun­gen weit­ergeben. Welch­er Schlep­per ist gut, welche Route ist gefährlich, wo kann man Pässe kaufen, wo kön­nen wir sich­er über­nacht­en, was macht Ungarn ger­ade, wie sieht es in Izmir oder Bodrum aus usw.

Face­book ist ein Mark­t­platz der Schlep­per. Sie schreiben, „Unser Schiff ist sich­er, groß und kom­fort­a­bel“, „Wir garantieren, dass max­i­mal 20 Per­so­n­en in ein Boot kom­men“, „Wir fahren mit einem Reise­bus mit Wifi direkt von X nach Y und dazwis­chen muss nur max­i­mal eine Stunde zu Fuß gegan­gen wer­den.“ Die Wer­bung stimmt natür­lich nicht. Die Schiffe sind alte Boote. Gum­mi­boote müssen wir selb­st auf­blasen und wer­den mit 40 Per­so­n­en vollgestopft. Busse sind in Wirk­lichkeit Liefer­wa­gen. Fußmärsche dauern acht Stun­den oder länger als einen Tag.

Aber wir brauchen die Schlep­per. Wir wis­sen natür­lich, dass wir ihnen nicht ver­trauen kön­nen, also ver­suchen wir von den­jeni­gen, die vor uns auf den Fluchtrouten waren, Empfehlun­gen zu bekom­men, Tele­fon­num­mern, Namen, Adressen, Accounts auf Skype, Viber, tango.me oder What­sApp. Manche Schlep­per sind gut, manche sind gefährlich.

Die zweite Art von Face­book-Seit­en kann man sich so vorstellen: Engagierte Men­schen organ­isieren gemein­sam Hil­fe. Das sind Per­so­n­en aus Syrien, Palästi­na, Sau­di-Ara­bi­en, aus der Türkei und Griechen­land und solche, denen die Flucht nach Öster­re­ich, Deutsch­land, Schwe­den oder in die Nieder­lande schon geglückt ist. Sie stellen Notrufnum­mern zur Ver­fü­gung.

Wenn wir ohne Motor auf dem Meer treiben, organ­isieren diese Helfer_innen Ret­tung. Kurz vor dem Able­gen von der türkischen Ägäisküste teilen wir ihnen Abfahrsort und ‑zeit, das Boot, die Anzahl der Per­so­n­en und die eingeschla­gene Rich­tung mit. Sie über­prüfen dann, ob wir ankom­men und alarmieren die Polizei, wenn etwas nicht stimmt oder wenn wir ver­schwinden.

Schlep­per ver­suchen laufend mit Fehlin­for­ma­tio­nen die Polizei und die Küstenwachen zu täuschen. Aber den Helfer_innen ver­traut die Polizei. Ihre Infor­ma­tio­nen stim­men und sie kön­nen außer­dem auf Türkisch oder Griechisch mit der Polizei tele­fonieren. Die Polizist_innen kön­nen meis­tens kein Englisch, erst recht nicht Ara­bisch oder Far­si.

Eine Empfehlung: die Doku #myescape mit Handy-Videos & ‑Fotos von den Reisen.
https://www.youtube.com/watch?v=bB3WdudI0L0

Unsere Informationsbörsen und ihre Grenzen

Bevor wir aus dem Libanon aufge­brochen sind, hat ein­er unser­er Brüder Wochen und Monate lang sechzehn Face­book-Seit­en ver­fol­gt. Sein Lap­top war ein Kon­trol­lzen­trum. Er hat alles gesam­melt: Kon­tak­te, Empfehlun­gen und War­nun­gen, Namen von Hotels, Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen und wichti­gen Plätzen, Karten. Er hat selb­st auf den Seit­en kom­men­tiert, Fra­gen gestellt und dann auf What­sApp wei­t­er­disku­tiert.

All das sind die selb­stor­gan­isierten Foren, auf denen unglaublich viele Men­schen ständig Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen, Tre­ff­punk­te aus­machen, Tipps geben oder War­nun­gen posten. So wird stündlich aktu­al­isiert, wie die Lage etwa an der türkischen Küste aussieht, in Athen, an der griechisch-maze­donis­chen oder an der ser­bisch-ungarischen Gren­ze.

Wir hat­ten uns über eine dieser vie­len Seit­en einen Tre­ff­punkt mit anderen Reisenden aus­gemacht. Es gab einen Tag und Ort, um in ein­er größeren Gruppe die näch­ste Etappe über den Balkan anzuge­hen. Es ist nicht gut, alleine oder in Kle­in­grup­pen die Balka­n­route in Angriff zu nehmen. Am 15. August hät­ten wir in Athen sein müssen. Wir haben es knapp nicht geschafft, weil wir zu lange auf Samos fest­ge­sessen sind. Aber das wäre so ein typ­is­ch­er Fall gewe­sen, wo Flüchtlinge sich über Face­book selb­st organ­isieren, um sicher­er unter­wegs zu sein.

Wenn man am Ende ein­er Zwis­ch­ene­tappe irgend­wo ein­trifft, sagen wir von der Tages­reise zwis­chen Athen und Thes­sa­loni­ki oder dem nächtlichen Marsch über die ser­bis­che Gren­ze nach Szeged, dann ist das erste, die aktuellen Infos für die näch­ste Etappe auf der richti­gen Face­book-Seite nachzule­sen. Das unter­lassen wir wahrschein­lich nur zwis­chen Bel­grad und Ungarn, weil uns die Schlep­per ein­schär­fen, die Handys aus­geschal­ten zu hal­ten. Ange­blich ver­wen­den die Ungarn Handy­or­tung um uns abz­u­fan­gen.

Auf Face­book schauen wir nach: Ist die näch­ste Gren­ze noch offen? Was ist in den let­zten vierundzwanzig Stun­den passiert? Welche Regeln gel­ten ger­ade?

Es kann gut sein, dass ein Plan nicht mehr rel­e­vant ist, den wir vorher hat­ten. Kon­tak­t­per­so­n­en sind ver­schwun­den, vielle­icht sind sie festgenom­men wor­den, mussten unter­tauchen oder sie haben ihre Tre­ff­punk­te ändern müssen. Die Regeln für Routen haben sich geän­dert. Die Hotels, in denen wir über­nacht­en woll­ten, sind über­füllt.

In einem Fall sind wir nach der maze­donisch-ser­bis­chen Gren­ze mehr als einen Tag um Papiere ange­s­tanden, mit denen wir legal Ser­bi­en durch­queren hät­ten kön­nen – ohne Erfolg. Wir haben dann etwas mehr für den Bus nach Bel­grad gezahlt, weil wir ille­gal gefahren sind. Es hätte noch lange gedauert, Papiere zu bekom­men.

Ohne Papiere kon­nten wir in Bel­grad nicht in eines der Hotels gehen, das emp­fohlen wurde. Wir mussten uns neu informieren, eine Nacht auf der Straße schlafen, dann ein Hotel find­en, in das wir ohne Papiere schlüpfen kon­nten, um ein­mal etwas zur Ruhe zu kom­men. Und wir mussten andere Schlep­perkon­tak­te recher­chieren, weil die über Social Media von früher Reisenden Emp­fohle­nen unter­ge­taucht waren.

Schlepper. Routen. Fluchthilfe

Im Hochsom­mer 2015 waren immer mehr Men­schen auf den Routen in der östlichen Ägäis und am Balkan unter­wegs. Die Regeln änderten sich. Viele von uns kon­nten manche Etap­pen ohne Schlep­per unternehmen. Zwei von uns sind im August unter­wegs gewe­sen, als am Balkan, in Öster­re­ich und Deutsch­land viele Wege geöffnet oder zumin­d­est vere­in­facht wur­den. Nur ein paar Wochen vorher mussten wir durch Maze­donien noch marschieren und Flüchtling­shil­fe war nicht nur ver­boten, son­dern wurde mit Strafen geah­n­det. Dann gin­gen Züge. Später ging nichts mehr.

In Ungarn war es immer furcht­bar und dann war diese Route ganz geschlossen. Wir sind knapp vor der Schließung der ungarischen Gren­ze noch durchgekom­men, als sich viele ohne Schlep­per auf den Weg gemacht hat­ten.

Ohne Schlep­per unter­wegs zu sein kostet jedoch auch viel. Es gibt andere Ungewis­sheit­en und andere Stra­pazen. Es kann schlim­mer aus­ge­hen als mit Schlep­pern. Den­noch gilt: Wenn ger­ade mehr geht, wenn Staat­en Züge und Busse organ­isieren, um uns schnell weit­erzube­fördern, brauchen wir die Schlep­per weniger.

Je mehr Fluchtwege geschlossen wer­den, desto abhängiger wer­den wir von Schlep­pern, desto gefährlich­er wird es für die Schlep­per und desto gefährlich­er wer­den die Schlep­per für uns.

Wir sind vor und wir sind nach dem Pakt zwis­chen der EU und Erdo­gan auf der Reise gewe­sen, als nun auch die Durch­querung der Türkei mit einem Jahr Gefäng­nis bestraft wor­den wäre, wenn sie uns aufge­grif­f­en hät­ten. In einem Fall waren wir deut­lich früher unter­wegs, als die Über­querung des Evros bzw. der Mar­it­sa noch eine real­is­tis­chere und übliche Route war. Wir sprechen vom Gren­zfluss zwis­chen der Türkei und Griechen­land, in dem genau­so wie im Meer viele Men­schen ertrunk­en sind.

Wir haben nie Schwim­men gel­ernt und sind beim ersten Ver­such damals geken­tert. Das passierte gle­ich nach dem Able­gen, weil ein paar Pas­sagiere in Panik geri­eten. Wir kon­nten uns an einem Bau­mast aus dem Wass­er ziehen. Ein Flüchtling hat dabei fün­f­tausend Dol­lar ver­loren. Von mehreren anderen wis­sen wir nicht, was mit ihnen passiert ist. Wir haben nur unser Handy ver­loren. Beim zweit­en Ver­such ist uns die Über­querung des Flusses gelun­gen.

Den ganzen Weg versteckt, aus der Heimat ferngesteuert

Nach dem Pakt mit Erdo­gan unter­wegs zu sein hieß, den gesamten Weg von Kur­dis­tan bis nach Öster­re­ich ver­steckt zu reisen. Die Organ­i­sa­tion aller unser­er Reisen ist unter­schiedlich ver­laufen, diese hat mit ein­er Kon­tak­t­per­son funk­tion­iert, die wir nur tele­fonisch kon­tak­tiert haben. Hier haben wir es mit einem anderen Typus von Fluchthelfern oder Schlep­pern zu tun. Das sind Leute, die wir nie tre­f­fen und mit denen wir nur über Viber, What­sApp oder Tele­fon kom­mu­nizieren.

Sie dirigieren uns über den gesamten Weg per pri­vat­en Kom­mu­nika­tion­skanal, organ­isieren alle Etap­pen, sagen uns, wo wir abge­holt wer­den, wohin wir marschieren müssen, wo wir uns ver­steck­en müssen und wann wir wieder aus Ver­steck­en her­auskom­men kön­nen. Sie über­set­zen uns aus der Dis­tanz, was die von ihnen organ­isierten lokalen Schlep­per sagen und was wir ihnen sagen wollen.

Zu zweit haben wir von Al Hasakah bis Wien pro Etappe neue Anweisun­gen über diesen Weg bekom­men, via Edirne, einen Fuss­marsch über die bul­gar­ische Gren­ze, dann Sofia und Bel­grad – wie zwei Pakete. In Öster­re­ich haben wir unsere Ver­wandten zu Hause angerufen und das aus­gemachte Hon­o­rar von rund fün­f­tausend Euro pro Per­son wurde an den Kon­takt in Al Hasakah aus­gezahlt. Auf dem ganzen Weg gab es kein Inter­net, alles ging ohne Social Media.

Aufbruch aus dem Iran

Wieder anders ist es in den Vorstädten von Isfa­han und Teheran, von wo wir uns als afghanis­che oder pak­istanis­che Flüchtlinge auf­machen. Zwis­chen unser­er Flucht aus Afghanistan und dem neuer­lichen Auf­bruch aus dem Iran liegen oft Jahre, die wir als Ille­gale in Arbeitssied­lun­gen arbeit­en. Hier wis­sen alle, wie und wo wir Schlep­per find­en.

Wir haben auch alle Kon­tak­te in Europa, die uns mit ihren Schlep­pern verbinden, wenn sie gut waren. Östlich von der Lin­ie Türkei, Syrien, Irak sind es die Bekan­nten und Ver­wandten in Europa oder Übersee, die unsere “Social Media”-Kontakte darstellen. Die Kom­mu­nika­tion läuft halt tra­di­tionell über das Tele­fon, nur wenn möglich über tango.me und Viber, um Geld zu sparen: Erzäh­lun­gen, was uns erwartet, Namen von Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen, Dör­fern, Straßen und Städten.

Ohne Inter­net und Social Media ver­han­deln wir vor Ort mit Schlep­pern, ver­suchen uns ein Bild von ihnen zu machen, sie einzuschätzen. Wir brauchen sie. Wir wären son­st nie durch die Wüste zwis­chen Nim­ruz und Bam gekom­men. Und wie sollen wir von Oru­miyeh über das Gebirge nach Van kom­men. In bei­den Fällen müssen wir nicht nur an Gren­z­sol­dat­en vor­bei, son­dern auch an den Ban­diten, die uns für Lösegeld gefan­gen nehmen und ver­schwinden lassen, wenn es nie­man­den gibt, der für uns etwas Geld trans­ferieren kann.

Auf der türkischen Seite des Gren­zge­birges zum Iran haben wir nun Inter­net, vielle­icht aber noch keine Smart­phones, keine Ahnung von Face­book oder nicht die aus­re­ichen­den Sprachken­nt­nisse, um ohne jene Schlep­per­or­gan­i­sa­tion auszukom­men, mit der wir bis hier­her in den Schat­ten des Ararat gekom­men sind.

Geldtransfers und Safe Offices

Aus­gaben unter­wegs sind Tick­ets für Züge, Busse, Flugzeug und Fähren. Wir zahlen Zim­mer in Hotels oder Absteigen. Wir zahlen die Schlep­per, die Plätze in Booten, auf der Lade­fläche von Pick-ups, in Autos, Bussen oder Liefer­wa­gen. Wir zahlen neue SIM-Karten, manch­mal neue Handys und Pow­er Packs. Aber wir wollen nie zu viel Geld bei uns tra­gen.

Schlep­per zahlt man bess­er nicht im Voraus. Wie also funk­tion­iert das? Wieder braucht es das Handy und entwed­er „Safe Offices“ oder Ver­traute, die deren Auf­gabe übernehmen. West­ern Union gibt es in Afghanistan, dem Iran oder Syrien nicht. Wir haben unser Geld bei der Fam­i­lie, Ver­wandten, unseren Fre­un­den wie bei Banken deponiert. Per Tele­fon melden wir uns, wenn wir etwas brauchen.

Den Geld­trans­fer übernehmen Organ­i­sa­tio­nen, die wir nicht durch­schauen kön­nen. Es wird nicht wie in Europa dig­i­tal über­wiesen son­dern in einem Büro irgend­wo im Iran, Syrien oder der Türkei etwas bar abgegeben und in einem anderen Büro an einem anderen Ort in der Türkei, Griechen­land oder Ser­bi­en bekom­men wir etwas aus­bezahlt.

Die Organ­i­sa­tion hat ihre eige­nen Wege, im Hin­ter­grund die Kon­ten abzu­gle­ichen. Büros sind in Seit­en­straßen. Es sind ein­fache kleine Geschäfte, von denen es viele gibt. Alle wis­sen, wo sie zu find­en sind. Es gibt afghanis­che Organ­i­sa­tio­nen, ara­bis­che, türkische usw.

Die Bezahlung von Schlep­pern geht meis­tens über diese Büros, die „Safe Offices“ genan­nt wer­den. Es gibt sie in den gle­ichen Seit­en­gassen Bodrums, Izmirs oder Athens, in denen wir die Schlep­per find­en und ihre angemieteten Quartiere find­en, in denen wir bis zum Auf­bruchssig­nal ver­sam­melt wer­den.

Natür­lich ver­suchen wir, unser Geld für die Über­fahrt in einem Safe Office zu hin­ter­legen, das wahrschein­lich nicht von der gle­ichen Organ­i­sa­tion betrieben wird, der unsere Schlep­per ange­hören. Nach Möglichkeit gehen wir nicht alleine hin, weil wir bere­its zehn­tausend Euro in bar bei uns tra­gen, der Preis für mehrere Per­so­n­en und eine Über­fahrt in einem voll­ge­füll­tem Schlauch­boot. Zwis­chen der Türkei und Griechen­land waren das im Som­mer 2015 tausend­fünfhun­dert Dol­lar pro Per­son.

Unsere Vertreibung, ihre Geschäftsgrundlage

Um nur ein­tausend Dol­lar kön­nte man ein ganzes Boot neu kaufen. Aber natür­lich wird Flüchtlin­gen keines verkauft. Selb­st wenn, wür­den die Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen es sofort zer­stören und uns zur War­nung zusam­men­schla­gen. Wir müssen für die Über­fahrt bezahlen. Die, die kein Geld haben, dür­fen manch­mal trotz­dem mit, wenn sie den Boot­skapitän übernehmen und das Gum­mi­boot auf Kurs Rich­tung griechis­ch­er Insel hal­ten.

Im Safe Office nimmt ein zehn­jähriger Junge das Geld für unsere Gruppe von sechzehn Per­so­n­en ent­ge­gen. Er zählt tausende Dol­lar unter Auf­sicht. Einen Com­put­er gibt es nicht. Auf einem ein­fachen Zettel wird ein Code gekritzelt, ein beliebiger Satz, den wir uns aus­suchen. Wenn wir sich­er auf Kos, Samos oder Les­bos angekom­men sind, geben wir mit einem Anruf im Safe Office und dem Auf­sagen des auf den Zettel gekritzel­ten Satzes das Geld an die Schlep­per frei. Bei anderen Etap­pen in der Türkei, Ser­bi­en, Bul­gar­ien und Ungarn läuft es ähn­lich.

Haben wir genug Geld, kön­nten wir nach diesem Sys­tem sog­ar mit gefälscht­en Pässen direkt von Athen aus nach Ams­ter­dam, Berlin oder Stock­holm fliegen. Ein Fre­und von uns hat es so geschafft, beim sieben­ten Ver­such mit sieben ver­schiede­nen gefälscht­en Pässen sieben ver­schieden­er Nation­al­itäten. Die Kosten sind da natür­lich hor­rend. Von uns kon­nte sich das nie­mand leis­ten.

Im gün­stigeren Fall liegt das Geld nicht in einem der undurch­sichti­gen Safe Offices son­dern bei Ver­wandten. Im schlechteren Fall geben wir Schlep­pern das Geld direkt im Voraus, etwa weil der Auf­bruch uner­wartet plöt­zlich ist und wir uns denken, dass wir vom Geld sowieso nichts hät­ten, wenn es in unseren Taschen am Grund des Meeres steckt.

Hey Bruder, was machst du? Kein Handy! Bitte, kein Handy. Vorzeigeflüchtlinge! Kein Handy.

In Öster­re­ich sind Smart­phone, Inter­net und Social Media noch mehr im Ein­satz als auf unseren Reisen. Zum einen wollen wir jet­zt mit unseren Fam­i­lien und Freund_innen reden. Manche von uns haben das unter­wegs in jed­er möglichen Sit­u­a­tion gemacht, andere haben das unter­lassen und nur nach den gefährlich­sten Etap­pen eine Nachricht geschickt.

Jet­zt sind wir in Sicher­heit und haben eine große Ungewis­sheit weniger. Außer­dem haben wir viel Zeit. Manche von uns verzweifeln, weil wir nichts zu tun haben und in vie­len Sit­u­a­tio­nen nichts tun dür­fen. Dann sind Smart­phones, YouTube-Videos, Spiele wichtig, um nicht ver­rückt zu wer­den. Akku­ladun­gen sind kein Prob­lem mehr und das Handy ist manch­mal die einzige Ablenkung von ein­er tris­ten Umge­bung und schlim­men Erin­nerun­gen.

Unter­wegs haben wir oft nur ein Handy für eine ganze Gruppe aufge­dreht gehabt und das näch­ste, wenn wieder eines leer war. Wir waren von Handys abhängig, um uns nicht zu verir­ren und um Kon­tak­te anrufen zu kön­nen. Jet­zt müssen wir uns die Handys nicht mehr teilen. Jet­zt muss unser eigenes unsere Unter­hal­tung übernehmen.

Manche von uns ver­fol­gen weit­er­hin die Face­book-Seit­en, die so etwas wie selb­stor­gan­isierte Medi­en­por­tale über die Lage in Syrien sind. Wir kom­men nicht los, obwohl die Nachricht­en grausam sind. Wir sehen YouTube-Videos vom Phos­pho­r­re­gen und wachen in der Nacht auf, weil wir wieder das Feuer im Traum auf uns her­ab­fall­en sehen. Immer öfter nehmen wir uns vor, nichts mehr über zu Hause zu lesen. Aber noch posten wir auf Face­book sel­ber aktuelle Berichte über den Krieg in Syrien.

Andere von uns haben schon lange zugemacht. Wir ver­wen­den Social Media nur mehr für die tagtäglichen Kon­tak­te hier, zur Kom­mu­nika­tion mit Freund_innen und natür­lich für das Kon­takt hal­ten mit unseren Brüdern und Schwest­ern, die es über Europa verteilt hat.

Auf dem Smart­phone sind jet­zt außer­dem mehrere Apps instal­liert, mit denen wir Deutsch und Englisch ler­nen, Sprach­pro­gramme und Apps, die uns mit anderen Kon­ver­sa­tion üben lassen. Wir hören Musik, schauen Filme, manch­mal aus unser­er Heimat, manch­mal von hier, um die Kul­tur ken­nen zu ler­nen und bess­er zu ver­ste­hen. Es gibt Reise­führer-Apps und Apps für Museen, Über­set­zung­spro­gramme und Lexi­ka.

Als wir am Helden­platz in der Men­schen­menge ges­tanden sind, waren unsere Smart­phones Lichter im Lichter­meer. Im The­ater­stück haben wir die Handys in ein­er Szene vorher schon ver­wen­det, um mit Licht­punk­ten in der Hand zu „Wien nur du allein“ zu tanzen.

Die Szene ist in den Work­shops auch daraus ent­standen, weil wir in Pausen sofort Musik mit einem Smart­phone gemacht und getanzt haben. Später hat sich die Szene bei Proben weit­er­en­twick­elt. Jemand aus unserem Ensem­ble hat im Scherz gerufen, „Hey, kein Handy, wir sind Vorzeige­flüchtlinge“.

Es ist komisch, wenn uns zum Vor­wurf gemacht wird, Handys zu haben. Ohne kom­men wir auf der Flucht nicht weit­er. Wir haben Schlep­pern von Syrien bis Öster­re­ich in etwa fün­f­tausend Euro zahlen müssen, vom Iran nach Öster­re­ich zehn- bis fün­fzehn­tausend. Was kostet dage­gen schon ein Smart­phone?

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Die Herausforderung des Internet als Herausforderung für die Politische Bildung

Hier der Ver­such, die Her­aus­forderung Social Media und Inter­net für Lehrer_innen in der poli­tis­che Bil­dung grundle­gend aufzu­bere­it­en.

 

Ein­gangs fol­gen­des Dik­tum:

Wer über Social Media, Soziale Bewe­gun­gen und poli­tis­che Bil­dung sprechen will, darf über Inter­net und World Wide Web nicht schweigen.

Das Inter­net bildet die Basis für all das, was wir seit einem knap­pen Jahrzehnt als Social Media anse­hen. Wenn uns an einem tief­er­en Ver­ständ­nis von Social Media und Sozialen Bewe­gun­gen gele­gen ist, müssen wir uns damit beschäfti­gen, was das denn eigentlich ist.
“Das Inter­net”.
Das “Web”.

Wir ste­hen vor der Her­aus­forderung, dass wir selb­st einen adäquat­en Begriff des tech­nol­o­gis­chen Wan­dels und der gesellschaftlichen Imp­lika­tio­nen brauchen, bevor wir daran denken kön­nen, anderen mehr als angel­erntes, ober­fläch­lich­es Wis­sen zu ver­mit­teln. Tief­eres Ver­ständ­nis als Basis emanzi­pa­torisch­er Hand­lungs­fähigkeit, das ist nicht ein­fach angesichts der vielschichti­gen, kom­plex­en und weit­er­hin rel­a­tive neuar­ti­gen Phänomene, die uns eben­so einzeln wie als Gesellschaft vor man­nig­faltige Prob­leme stellen.

Die Kondratieff-Zyklen. Ein Auszug aus Erik Händeler: Die Geschichte der Zukunft (via linkmatrix.eu).
Die Kon­drat­jew-Zyklen. Ein Auszug aus Erik Hän­del­er: Die Geschichte der Zukun­ft (via linkmatrix.eu).

Wie lässt sich eine Mon­strosität wie das Inter­net, das uns all­ge­gen­wär­tig umgibt und trotz­dem so schw­er greif­bar ist, in sein­er Gesamtheit erfassen?

Wie kön­nen wir den The­menkom­plex päd­a­gogisch ange­hen und fundieren, so dass implizite Missver­ständ­nisse und unwesentliche Annah­men abgear­beit­et wer­den, während sys­temis­ches Grund­ver­ste­hen aufge­baut wird, aus dem her­aus es möglich ist, eben­so einzelne Fra­gen und Antworten abzuleit­en wie zukün­ftige Entwick­lun­gen einzuord­nen?

Ich will das Ziel ein­er solchen Auseinan­der­set­zung mit Fou­caults bekan­nter Formel „Was ist Kri­tik“, näm­lich „die Kun­st nicht der­maßen regiert zu wer­den“, auf einen Punkt brin­gen: ((Fou­cault 1992, 12))

Wie kann Kri­tik von Social Media und Sozialen Bewe­gun­gen zur poli­tis­chen Bil­dung wer­den, die sich nicht in Bew­er­tun­gen aktuell disku­tiert­er Phänomen erschöpft son­dern gesellschaftliche Funk­tio­nen, Wech­sel­wirkun­gen und Kämpfe nachvol­lziehbar macht.

Oder kürz­er: die Kun­st nicht der­maßen vom tech­nol­o­gis­chen Wan­del über­fordert zu wer­den.

Der fol­gende Text schlägt ein Cur­ricu­lum samt prak­tis­ch­er Auf­gaben­stel­lun­gen vor, das dieser Vision ver­schrieben ist.

Aus der Pub­lika­tion der Öster­re­ichis­chen Gesellschaft für Poli­tis­che Bil­dung «Im Blick­winkel: Poli­tis­che Erwach­se­nen­bil­dung in Österreich» hg. von Rahel Baum­gart­ner und Hakan Gürses.

Die einzel­nen Etap­pen zie­len dabei nicht auf das Geben von Antworten son­dern die Kom­pe­tenz zu fra­gen und sich zu ori­en­tieren ab, also nicht auf Schließung son­dern auf Öff­nung. Mit jed­er Etappe sind Auf­gaben ange­führt, die exem­plar­isch einen Ein­druck geben mögen, was in der Bil­dungsar­beit an dieser Weg­marke disku­tiert wer­den kön­nte.

Begonnen wird mit der Zeich­nung ein­er Analo­gie, die unsere Posi­tion und unser Ver­hält­nis zu den Phänomen Inter­net, Web und Social Media neu fasst.

Im näch­sten Schritt geht es um die Ein­führung ein­er Meta­pher, die eben diese Phänomene und ihre Vielschichtigkeit beschreibt.

Mit dem drit­ten Schritt gelan­gen wir zu ein­er klaren struk­turellen Def­i­n­i­tion „Was uns das Inter­net alles ist“. ((Wenn im weit­eren Ver­lauf vom Inter­net und nur an aus­ge­sucht­en Stellen auch vom WWW und den Social Media gesprochen wird, so dient das der Ver­mei­dung umständlich­er Ver­dopplun­gen. Das “Inter­net” wird als Bedin­gung der Emer­genz der bei­den weit­eren Phänomene expliz­it vor­angestellt, Web und SM sind in der Regel mit­ge­meint.))

Nach diesen ersten drei Etap­pen, die zusam­men darauf abzie­len, einen umfassenden Begriff des kom­plex­en Phänomens Inter­net in unser­er Gesellschaft zu entwick­eln, wird die Verbindung zu sozio-kul­turellen Inter­essen, poli­tisch-ökonomis­chen Kon­flik­ten und sozialen Bewe­gun­gen skizziert.

Schritt fünf nimmt sich daraufhin des Bemessens von Verän­derun­gen und gesellschaftlichem Wan­del an.

Schließlich geht es in zwei Schrit­ten darum, das Wesen von Social Media zu ver­ste­hen. Dazu geht es freilich zuerst um das kom­ple­men­täre Andere dessen, was wir als Social Media ver­ste­hen, näm­lich die tra­di­tionellen Massen­me­di­en.

Am Ziel all dieser Schrit­ten soll­ten wir bei einem brauch­baren Grund­ver­ständ­nis dafür ange­langt sein, was das Inter­net als Bedin­gung der Möglichkeit unser­er gegen­wär­ti­gen For­men der Verge­sellschaf­tung ist und mit den Sozialen Bewe­gun­gen zu tun hat.

Die let­zte Etappe des Cur­ricu­lums ver­sucht die Erfahrun­gen der zurück­gelegten Wegstrecke für eine knappe Diag­nose zusam­men­zuführen, wo wir heute in Bezug auf Social Media und Soziale Bewe­gun­gen ste­hen, wie wir hier angekom­men sind und worum es in Zukun­ft gehen wird.

Bevor es mit diesem Pro­gramm los­ge­ht, erscheint es mir notwendig, zwei berechtigte Vor­be­halte anzuführen:

Da ist zum ersten prob­lema­tisch, nur bis zum Inter­net auszu­holen und nicht noch eine Schicht grundle­gen­der mit dem Wesen des Dig­i­tal­en als Basis für unser Ver­ste­hen anz­u­fan­gen. Für das Buch für den dieser Auf­satz geschrieben wurde, hätte das den Rah­men allerd­ings vol­lends gesprengt.

'From Cash To Digital' von FamZoo Staff (creative commons).
‘From Cash To Dig­i­tal’ von Fam­Zoo Staff (cre­ative com­mons).

Zweit­ens kön­nte zum ein­lei­t­en­den Dik­tum gut und gerne addiert wer­den:

… und zum Inter­net sollte bess­er schweigen, wer ern­sthaft und uniro­nisch zu ver­ste­hen glaubt, was das Inter­net wirk­lich ist.

Nein, ich bilde mir nicht ein, das Inter­net zu ver­ste­hen.

Ich würde sog­ar sagen, dass wir alle an diesem uni­ver­sal- und kul­turgeschichtlich Punkt der Gegen­wart gar nicht in Lage sein kön­nen, das Inter­net samt anschließen­den Phänome­nen wirk­lich zu ver­ste­hen.

Nur, das ist kein Anlass zur schamhaften Zurück­hal­tung. Im Gegen­teil.

Die Über­forderung unser­er Gesellschaft mit den immer noch rel­a­tiv neuen tech­nol­o­gis­chen Umwälzun­gen ver­di­ent, nicht nur einge­s­tanden son­dern als solche the­ma­tisiert und reflek­tiert zu wer­den. Mein Vorschlag wäre, sie zum Aus­gangspunkt auch der didak­tis­chen Auseinan­der­set­zun­gen zu machen.

Die Analogie der ersten Moderne

Es ist eine der poli­tis­chen Bil­dung oft nicht gegebene Gnade des Fachs der Historiker_innen, dass zweit­ere zu Geschichte(n) zusam­men­fassen kön­nen, was aus ihrer Posi­tion des Sprechens bere­its zurück­liegende Ereignisse sind, abgeschlossene Entwick­lun­gen und bezüglich Rel­e­vanz klar zu Tage getretene Zusam­men­hänge.

Das Sprechen über den zeit­genös­sis­chen tech­nol­o­gis­chen Wan­del muss dage­gen aus der Mitte der gegen­wär­ti­gen Umbrüche und Umwälzun­gen kom­men. Im Unter­schied zu anderen Umwälzun­gen unser­er Zeit, die in große Begrif­f­en wie Glob­al­isierung, Überwachung, Neolib­er­al­is­mus, Kli­mawan­del, Prekarisierung gefasst wer­den, ist “das Inter­net” etwas, das wir selb­st laufend benutzen.

Immer mehr ist das Inter­net unser Zuhause, ein Raum, in dem wir uns bewe­gen, wahrnehmen, begeg­nen, denken, sprechen.

Ein Jahrhun­dert früher sind es Erzäh­lun­gen aus den elek­tri­fizierten, indus­tri­al­isierten Großstädten, die von der Erfahrung unbändi­gen, unüber­schaubaren, bun­ten Treibens und von neuen, schwindel­er­re­gen­den Geschwindigkeit­en bericht­en. Die Erzäh­lun­gen von damals ähneln in viel­er­lei Hin­sicht unseren Erzäh­lun­gen von heute. Vom Sog der Großs­tadt fasziniert, wird sie für viele und vieles zum Raum, der neues gebirt, während andere in Abwehr und Ablehnung die Kon­servierung früher­er Ver­hält­nisse suchen.

Die Tram elektrifiziert, die Stadtbahn vor 1910 noch nicht, Wien rund um den Josefstädter Gürtel bereits dicht bebaut.
Die Tram elek­trisch, die Stadt­bahn um 1910 noch nicht und Wien am Josef­städter Gür­tel bere­its dicht bebaut.

Ging es im Angesicht der mod­er­nen Metro­pole – Paris 1870, Lon­don 1880, New York 1890, Berlin 1900, Wien 1910 – darum, die Wucht der Erfahrung ein­er auf allen Ebe­nen explodieren­den Großs­tadt zu ver­ar­beit­en, han­deln unsere Erzäh­lun­gen heute von der Wucht, mit der die dig­i­tale Rev­o­lu­tion, die mod­erne Unter­hal­tungse­lek­tron­ik und das Inter­net unsere Lebenswel­ten und sozialen Sys­teme durcheinan­der brin­gen.

Betra­cht­en wir unsere Gegen­wart des frühen 21. Jahrhun­derts vor der Folie des Moder­nitätss­chocks des Fin de Siè­cle, ermöglicht das Wis­sen über damals, Bedin­gun­gen unser­er unmit­tel­baren Gegen­wart klar­er zu sehen.

Auf­gabe: Ver­gle­iche die Sit­u­a­tion von Zeitgenoss_innen des Fin de Siè­cle mit jen­er, in der wir uns heute befind­en. Arbeite her­aus, welche Her­aus­forderun­gen damals und heute die Zeitgenoss_innen fasziniert und beschäftigt haben. Gibt es Ähn­lichkeit­en in der Erfahrung der Elek­tri­fizierung, von Eisen­bahn, Auto und mod­er­nen Großstädten damals mit den gegen­wär­ti­gen Erfahrun­gen ein­er dig­i­tal­isierten Welt, des Inter­nets und der Social Media?

Was bedeuten die neuen Umge­bun­gen für die Poli­tik, Kun­st, Lit­er­atur, Wis­senschaften und Wirtschaftssys­teme?

 

Mit dieser Analo­gie wird dem, was wir pointiert den Schock der Mod­erne nen­nen kön­nten, unsere Gegen­wart zur Seite und gegenüber gestellt.

Für das Heute wäre es dann kon­se­quent, von einem Schock der Post­mod­erne zu sprechen. Das mag für die Charak­ter­isierung unser­er gegen­wär­ti­gen kul­turgeschichtlichen Spanne über­trieben klin­gen und hieße, unsere Gegen­wart als Schwellen­zeit zu definieren. Der Unsicher­heit und Über­forderung im Angesicht der aktuellen Her­aus­forderun­gen wird ein weit­eres Ele­ment der Ungewis­sheit hinzufügt, in welche Rich­tung sich die Welt entwick­elt.

Das Arbeit­en mit der Analo­gie lässt uns dafür – zumin­d­est method­isch – von dieser Unsicher­heit, Über­forderung und Ungewis­sheit aus­ge­hen, lässt sie uns nicht nur akzep­tieren, son­dern zum ana­lytis­chen Aus­gangspunkt machen und im Spiegel der Mod­erne die Dis­tanz eines guten Jahrhun­derts nutzen, um uns selb­st bess­er zu sehen.

Es ist das ein Kniff gle­ich jen­em, den Ita­lo Calvi­nos Mar­co Polo in den unsicht­baren Städten anwen­det, wenn er dem Khan von den Städten auf seinen Reisen erzählt. ((Calvi­no 2013)) Alle diese Städte han­deln von der einen, die dabei nicht genan­nt wird, von der Stadt, mit der alle anderen impliz­it ver­glichen wer­den. In den Erzäh­lun­gen von den unsicht­baren Städten spricht Mar­co Polo immer von Venedig. Das Beschreiben der anderen Städte stellt die Dis­tanz her, das zu Nahe, zu Selb­stver­ständliche, zu Dis­tan­zlose klar­er ins Auge zu nehmen.

Die Metapher der wie wuchernd wachsenden Großstadt

Stellen wir uns im näch­sten Schritt nun das Inter­net tat­säch­lich als Metro­pole vor. Die Großs­tadt als Geflecht von Verkehr­swe­gen und ‑knoten­punk­ten, durch die der traf­fic rauscht, als ver­net­zter Bal­lungsraum viel­er großer und klein­er Spe­ich­er.

Wir nutzen in dem Fall eine Meta­pher, die seit län­gerem so manchen Men­schen als nahe­liegend ein­fällt. ((Ich ver­wende sie in der poli­tis­chen Bil­dung seit Jahren und mache die Erfahrung, dass sie hil­fre­ich ist und funk­tion­iert.)) Die Großs­tadt selb­st bietet den Vorteil, räum­lich sinnlich durch die eigene Bewe­gung in ihr erfahrbar zu sein (und darüber hin­aus über viele andere Wege).

Der Begriff der Großs­tadt bietet den Vorteil, viele Aspek­te, man­nig­faltige Dimen­sio­nen, unzäh­lige Bilder, diverse Erfahrun­gen und aber auch abstrak­te Konzepte schein­bar wider­spruchs­frei zusam­men­z­u­fassen. Die Kom­plex­ität der Großs­tadt über­fordert uns weniger als jene von Inter­net und Web, weshalb wir unser intrin­sis­ches Ver­ständ­nis von urbaner Kom­plex­ität nutzen kön­nen, jene von Inter­net und Web zu bewälti­gen.

Eine Stadt, nicht einmal eine große, irgendwo in Vietnam. (Foto: Khánh Hmoong)
Die Struk­tur, Vielfalt und Vielschichtigkeit ein­er Stadt, und nicht ein­mal eine große, irgend­wo auf diesem Plan­eten. (Foto: Khánh Hmoong)

Mitte der 2010er Jahre dür­fen wir uns let­ztere freilich nicht als seit dem Mit­te­lal­ter gewach­sene, zen­tral organ­isierte, mit­teleu­ropäis­che Großs­tadt vorstellen. Passender als das Bild von Wien heute wäre eines von Mexiko-City oder Mum­bai.

Alles, was von aktuellen Stadt­plä­nen ger­ade abge­bildet wird, wür­den wir das per Such­mas­chine Auffind­bare nen­nen.

In den riesi­gen wilden Sied­lun­gen eben­so wie in gat­ed com­mu­nites wür­den wir uns in Erman­gelung ein­heitlich­er Regeln nur mit lokaler Unter­stützung und Genehmi­gung bewe­gen beziehungsweise zurechtfind­en; die Ord­nungs- und Diszi­plin­ierungssys­teme sind da oder dort zu unter­schiedlich aus­geprägt.

In die unzugänglichen deep net und anonym-geheimnisvoll dark net genan­nten Unter- und Abgründe der Stadt kom­men wir allein mit exk­lu­sivem Wis­sen.

Es gibt viele Insti­tu­tio­nen, aber (noch) keine zen­trale Ver­wal­tung und Regierung. Die Prinzip­i­en der Selb­stor­gan­i­sa­tion und der Selb­stver­wal­tung sind häu­fig anzutr­e­f­fen, sie sind für das Funk­tion­ieren ganz­er Vier­tel notwendig.

Es gibt mehrere Zen­tren, viele Periph­e­rien, und die Bewohner_innen sind nach Klasse, Schicht oder Milieu unter­schei­d­bar.

Es gibt seit der Grün­dung der Stadt hier lebende und eben frisch zuge­zo­gene Städter_innen. Die einen ken­nen sie noch als über­schaubares Dorf, andere sehen sie aus der Per­spek­tive der Einwohner_innen eines gut organ­isierten Stadt­teils neuge­bauter Miet­woh­nun­gen, und wieder andere ver­suchen sich ger­ade im Trubel ein­er wilden Sied­lung zu ori­en­tieren.

An Freiräu­men man­gelt es nicht, während klar­erweise immer mehr Bezirke den Logiken von Markt, Macht und Ver­wal­tung unter­wor­fen wer­den.

Der Praterstern in Wien um 1830. Um die Jahrhundertwende sind manche Trapeze schon bebaut, der Nordbahnhof bringt täglich neue Bewohner_innen an. Heute kämpfen Bürgerinitiativen gegen den Ausverkauf der letzten kleinen Freiflächen.
Der Prater­stern in Wien um 1830. Um 1900 sind die meis­ten Trapeze bebaut, der riesige Nord­bahn­hof bringt täglich neue Bewohner_innen. Ein Jahrhun­dert später, heute, kämpfen Bürg­erini­tia­tiv­en gegen den vol­lkomme­nen Ausverkauf der let­zten kleinen Frei­flächen.

Übri­gens kön­nen wir an dieser Stelle bere­its fra­gen, was an der Stadt das Inter­net wäre: die materielle Ebene der Straßen, Gebäude, Kanal­i­sa­tion, Leitun­gen usw., was das Web: das Leben und Treiben der Bewohner_innen, die in ihrer inter­agieren­den Gesamtheit erst die Stadt kon­sti­tu­ieren, und was die Social Media: die durch die Stadt drin­gen­den vie­len Gespräche, die vor allem an Schulen, Märk­ten, Shop­ping-Malls, mit Ver­anstal­tun­gen bespiel­ten zen­tralen Plätzen usw. verdichtet und ver­bre­it­et wer­den?

Es wäre das eine poten­zielle Auf­gabe, die Dif­feren­zierung und begrif­fliche Schär­fung ein­er­seits anhand der Megac­i­ty-Meta­pher zu trainieren und ander­er­seits zu disku­tieren, inwieweit die sprach­liche Abgren­zung der Begriffe gle­ichzeit­ig das Zusam­men­spiel des Ganzen aus dem Blick nimmt.

Was die Meta­pher der Megac­i­ty jeden­falls plas­tisch her­ausar­beit­en sollte, eben­so wie die zuvor einge­führte Analo­gie zwis­chen dem Umbruch der Mod­erne und jen­em der Gegen­wart, sind die Logik und die Sicht­barkeit gesellschaftlich­er Kon­flik­te rund um Inter­net, Web und Social Media. Diese kön­nen so verortet wer­den, wie das im Gewebe der Stadt gut möglich ist. Da wie dort geht es um Architek­tur, Kon­trolle über Infra­struk­tur und Nutzungs­for­men, um Teil­habe und darum, welche gesellschaftlichen Grup­pen ihre Vorstel­lun­gen durch­set­zen kön­nen.

Auf­gabe: Konzip­iere Stadt­führun­gen, die in die ver­schiede­nen Vier­tel, Dimen­sio­nen, Funk­tio­nen und Prob­leme der Metro­pole „Inter­net“ ein­führen.

Betra­chte das Auftreten neuer, vor­dem nicht möglich­er und daher nicht denkbar­er Organ­i­sa­tions­for­men mit der Megac­i­ty-Inter­net-Meta­pher. Unter­suche, inwieweit sich Ansprüche an poli­tis­ch­er Beteili­gung und Fra­gen der Herrschaft von der Stadt auf das Inter­net umle­gen lassen.

 

Wozu und wie wir das Internet gebrauchen

Das Bild des Inter­nets als lebendi­ge Großs­tadt ist angedeutet. Wie viel sich damit anfan­gen lässt, muss hier der weit­eren Arbeit mit der Meta­pher oder der Phan­tasie über­lassen wer­den.

Die nun fol­gende struk­turelle Def­i­n­i­tion funk­tion­iert anders als eine Erzäh­lung, sollte sich aber in dieses Bild des Inter­nets als urbane Metro­pole inte­gri­eren lassen.

Die Def­i­n­i­tion basiert darauf, vier grundle­gende Funk­tio­nen zu dif­feren­zieren, die “das Inter­net” gle­ichzeit­ig für Men­sch und Gesellschaft erfüllt. Das Inter­net ist all diese vier Funk­tio­nen und Dimen­sio­nen in Einem!

Erstens ist es glob­ales Trans­portmedi­um.

Zweit­ens ist es glob­ales Spe­icher­medi­um.

Drit­tens ist es glob­ales Kom­mu­nika­tion­s­medi­um.

Viertens ist es außer­dem glob­ale Ressource und glob­ale Infra­struk­tur.

Warum erachte ich die Unter­schei­dung dieser Dimen­sio­nen für notwenig und hil­fre­ich, wie lässt sich dieses Raster mit der Großs­tadt­meta­pher denken, und wie sieht es mit der Anwend­barkeit für die poli­tis­che Bil­dung aus?

Def­i­n­i­tio­nen des Inter­nets set­zen in aller Regel bei der Erk­lärung allein tech­nis­ch­er Bedin­gun­gen an. Befra­gen wir das World Wide Web via Such­mas­chine, so gelan­gen wir zum Ein­trag “Inter­net” der freien Online-Enzyk­lopädie Wikipedia. Das tuend, führen wir aus mehreren möglichen die heute gemein­hin wahrschein­lich­ste Hand­lung dafür aus, etwas zu recher­chieren.

Prozent der Personen im Internet, die regelmäßig diese Möglichkeiten nutzen: E-Mail, Suchmaschinen, Nachrichten online verfolgen, einkaufen, social media bzw. networks.

Im Akt, eine all­ge­mein anerkan­nte Erk­lärung dafür her­auszusuchen, was das Inter­net ist, greifen wir auf kul­turelles Gedächt­nis über das Inter­net zu, machen das im kollek­tiv­en Gedächt­nis Web, machen das gemäß zeit­genös­sis­ch­er Inter­net-Kul­tur, machen das ver­mit­tels WWW, machen das unsere Suchan­frage in Bits and Bytes ins Netz sendend, die Bits and Bytes zum Aufruf des Inter­net-Ein­trags der Plat­tform Wikipedia emp­fan­gend. Dieser wohl mil­lio­nen­fach durchge­spielte Ablauf, über den noch einiges mehr zu sagen wäre, macht klar, dass tech­nis­che Erk­lärun­gen allein nie erfassen kön­nen, was Inter­net und Web wirk­lich sind.

Für die poli­tis­che Bil­dung ist ein auf tech­nis­che Bes­tim­mungen reduziert­er Begriff ungenü­gend. Bedeu­tend ist vielmehr der Fokus auf gesellschaftliche Nutzung, gesellschaftliche Bedeu­tung, gesellschaftliche Bedin­gun­gen usw. ((Ich würde dage­gen ein Ver­ständ­nis von Tech­nik vorziehen, dass gle­ichzeit­ig die materielle Ebene, die men­schlichen Hand­lun­gen zur Nutzung und die mit der Nutzung aus­ge­führten sozialen Funk­tio­nen umfasst. Siehe dazu Roh­pohl 1991.))

Es bedarf kein­er tief­greifend­en Analyse, um sich zu verge­gen­wär­ti­gen, wie essen­tiell die vier Dimen­sio­nen Transport‑, Kommunikations‑, Spe­icher­medi­um sowie Ressource und Infra­struk­tur für alle Men­schen, Grup­pen und Gesellschaften sind. Es erscheint offen­sichtlich, wie rel­e­vant die Kon­trolle dieser Funk­tio­nen sein kann, wie fatal jed­er Auss­chluss wäre. Das wird heute freilich bere­its weit­ge­hendst anerkan­nt.

Seit mehr als einem Jahrzehnt wird ein Men­schen­recht auf Zugang disku­tiert. Die Vere­in­ten Natio­nen vertreten die Posi­tion, dass es Regelun­gen für diese „glob­ale Ressource“ bedarf, die

das Recht eines jeden Men­schen auf selb­st­bes­timmten Zugang zu Infor­ma­tion eben­so wie auf selb­ster­mächtigte Nutzung von Infor­ma­tion und Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien unab­d­ing­bar unter­stützen“. ((Unit­ed Nations 2012))

Auf­gabe: Disku­tiere für jede der vier Dimen­sio­nen das Poten­zial, wie und wozu Men­schen diese jew­eili­gen Funk­tio­nen des Inter­nets nutzen kön­nen.

Erörtere, was der Auss­chluss von der einen oder anderen Funk­tion für Men­schen bedeuten würde und mit welchem Recht so ein Auss­chluss begründ­bar wäre.

 

Das glob­ale Trans­portmedi­um nicht nutzen zu kön­nen, bedeutete mehr als dig­i­tale Dat­en nicht senden und emp­fan­gen zu kön­nen. An kaum einem Beispiel wird das so offen­bar, wie wenn wir an Geld­flüsse denken. Geld, das heute in aller Regel mit­tels virtueller Kon­to­stand­sän­derun­gen zirkuliert, wird in diesem Sinne per Daten­paket und via Inter­net trans­portiert.

Hier ist die in Nullen und Ein­sern codierte Infor­ma­tion das Beze­ich­nete selb­st, und so wer­den nicht nur Daten­pakete von dem Trans­portmedi­um über­tra­gen, son­dern Infor­ma­tion, Kul­turgüter, dig­i­tale Iden­titäten, Kap­i­tal und Befehle an Maschi­nen und Com­put­er.

Bei der Suche nach illus­tra­tiv­en Bildern gefun­den:
eine Darstel­lung des “Inter­net of Things” in aufeinan­der auf­bauen­den Plat­tfor­men mit der Stadt als ober­ster Plat­tform-Ebene.

Die Kon­trolle über diese glob­ale Funk­tion bedeutet, solche Oper­a­tio­nen regeln, stop­pen, manip­ulieren zu kön­nen; etwa den Vor­rang gewiss­er Dat­en vor anderen durchzuset­zen, was das Ende der Net­zneu­tral­ität mit sich brächte, oder die Kon­trolle der Dinge im Inter­net of Things (IoT) in der Hand zu haben, in die kyber­netis­che Kom­mu­nika­tion und Steuerung zwis­chen per Inter­net ver­bun­de­nen Maschi­nen ein­greifen zu kön­nen, um einen soge­nan­nten Cyber­war führen zu kön­nen.

Bildschirmfoto 2016-01-08 um 00.35.59
Heutzu­tage schon banal – auch wenig kom­plex – und selb­stver­ständlich nicht men­schliche Kom­mu­nika­tion: die Anzeige der Füll­stände von Bike-Sta­tio­nen in Echtzeit.

Eben­falls in Daten­paketen über­mit­telt wird das, was wir men­schliche Kom­mu­nika­tion nen­nen kön­nen. Die Bedeu­tung dieser Funk­tion ist kaum zu über­schätzen. Die Bedeu­tung des Inter­nets als Bedin­gung der Möglichkeit glob­aler men­schlich­er Kom­mu­nika­tion – ob Schrift, gesproch­ene Sprache oder Video, ob in Echtzeit oder als jed­erzeit aufruf­bare Gespräche unter vie­len Beteiligten – eben­so wenig. Daher leite an dieser Stelle über zur Dimen­sion des Spe­icher­medi­ums.

Wir begreifen heute immer mehr, dass unsere Kom­mu­nika­tion nicht mehr so flüchtig und pri­vat ist, wie wir das vom Gespräch auch dann gewohnt waren, wenn es in der rel­a­tiv­en Öffentlichkeit eines öffentlichen Raums stattge­fun­den hat. Dig­i­tale Rev­o­lu­tion und Inter­net haben men­schliche Kom­mu­nika­tion nicht allein räum­lichen und zeitlichen Beschränkun­gen enthoben, son­dern Kom­mu­nika­tion auf vie­len Ebe­nen spe­icherbar, abhör­bar, kopier­bar gemacht. Und gespe­ichert wird alles; Kom­mu­nika­tion, Dat­en von und über uns, Meta­dat­en, alles von Daten­schmutz bis zu sen­si­blen Dat­en.

Mit Blick auf die Funk­tion des Inter­nets als glob­ales Archiv rückt zudem die Bedeu­tung von Wis­sen in den Vorder­grund. Dabei geht es um freies und frei zugänglich­es Wis­sen. Es geht um Kon­trolle nicht nur über unsere Dat­en, son­dern auch über kollek­tive Iden­titäten, um hege­mo­ni­ale ver­sus ver­drängte Geschicht­en. Und es geht um die mas­sive Umstruk­turierung unser­er kul­turellen Gedächt­nisse, soweit diese nicht mehr allein in Arte­fak­ten und Baut­en, begren­zten Bildern und Schriften, Bib­lio­theken und Archiv­en, elitären Insti­tu­tio­nen und Pro­fes­sio­nen gespe­ichert sind, son­dern nun zusät­zlich in diesem neuen glob­alen kollek­tiv­en Gedächt­nis ver­han­delt wer­den.

Die Stadt und ihre Architektur als kulturelles Gedächtnis und als Medium. #nuffsaid
Die Stadt und ihre Architek­tur als kul­turelles Gedächt­nis und als Medi­um. #nuff­said

Es wäre wohl eine der inter­es­san­teren Auf­gaben, die gegen­wär­tig noch kaum ange­gan­gen ist, das the­o­retis­che Wis­sen um die Poli­tik kul­tureller Gedächt­nisse auf die verän­derte Wirk­lichkeit des Inter­nets anzuwen­den. ((Für die grundle­gen­den Fragestel­lun­gen dazu vgl. Ass­mann 1992.))

Auf­gabe: Samm­le und sys­tem­a­tisiere, welche Arten von Dat­en, was an Wis­sen es im Inter­net, im World Wide Web und auf den Social-Media-Plat­tfor­men gibt, was davon prob­lema­tisch und riskant ist, was uns allen wichtig ist und was als gesellschaftlich wertvoll erachtet wird.

Über­lege, über welche Wege Dat­en in die glob­alen Archive einge­tra­gen wer­den, wer Zugriff auf welche Archive hat und was du dir an frei zugänglichem Wis­sen wün­schen würdest. Welche Chan­cen und Risiken bieten die Transport‑, Kom­mu­nika­tions- und Spe­icher­funk­tio­nen den Sozialen Bewe­gun­gen?

 

Ressource, Infrastruktur und das Recht auf Stadt

Sel­ten wird die Stadt auf so drama­tis­che und spek­takuläre Weise zum Medi­um, wie es im Som­mer 1989 in Chi­na geschah. Der zen­trale “Platz des Himm­lis­chen Friedens” in Peking diente den rebel­lieren­den Stu­den­ten als Medi­um ihres poli­tisch-exis­ten­tiellen Anspruchs, dieselbe Ortssym­bo­l­ik nutze dann die chi­ne­sis­che Kom­mu­nis­tis­che Partei, als sie den Ruf nach Frei­heit mit Panz­ern über­rollte – vor allem wieder auf diesem Platz, an diesem priv­i­legierten Ort“. ((Schreiben­er 1990, 145))

So begin­nt ein Artikel aus dem Jahre 1990 mit dem Titel „Die Stadt als Medi­um“, der in weit­er­er Folge daran erin­nert, dass die Stadt „ein Medi­um ihrer bürg­er­lichen Belange, vor allem ihrer Unab­hängigkeit und Aufgeweck­heit [war], lange bevor es die Medi­en gab“. ((ebd., 154))

Inter­pretieren wir unsere Megac­i­ty „Inter­net“ als Medi­um, was für eine Stadt unüblich erscheinen mag, aber hin und wieder wie im ange­führten Artikel getan wird:
Wir wer­den uns das Medi­ale, das Ver­mit­tel­nde der Stadt im Kon­text ihrer Architek­tur vorstellen, dabei die Trans­portwege, Spe­icherorte, Kom­mu­nika­tion­skanäle nicht aus den Augen ver­lieren.

Wir wer­den die Kom­plex­ität der Struk­tur und vielle­icht auch die Poten­zial­ität der Megac­i­ty mitbe­denken, kaum Gefahr laufend, sie als Medi­um mit ein­er black box oder gar mit ein­fach­er Materie gle­ichzuset­zen.

Die Stadt als Symbolsystem, als Bühne des Politischen, als Architektur, um deren Bedeutung gestritten wird.
Die Stadt als Sym­bol­sys­tem, als Bühne des Poli­tis­chen, als Architek­tur, um deren Bedeu­tung gestrit­ten wird.

Und wir wer­den die Stadt als ständig im Wan­del begrif­f­enes Medi­um begreifen, so wie auch Inter­net, Web und Social Media. Wir wür­den von selb­st bei dem Aspekt ange­lan­gen, dass diese Medi­en Ressourcen und Infra­struk­tur darstellen, laufend Neues zu bauen und an der beste­hen­den Architek­tur etwas zu verän­dern.

Selb­stver­ständlich hat Face­book nicht die Ara­bel­lion bed­ingt, genau­so wenig wie der Tian’an­men die Demokratiebe­we­gung von 1989 aus­gelöst hat. Die zen­tralen Plätze wie der Tahrir, der Syn­tag­ma oder die Puer­ta del Sol ein­er­seits, eben­so wie die rel­e­van­testen Net­zw­erke, Foren und dis­si­den­ten Bilder auf Face­book ander­er­seits waren den sozialen Bewe­gun­gen Medi­en der Kom­mu­nika­tion, der Organ­i­sa­tion, der Protes­tent­fal­tung, der Wider­ständigkeit.

Und so wie die zen­tralen Plätze nur die sicht­barsten Bren­npunk­te sind, während die ganze Stadt Medi­um ist, gilt das vielmehr noch für “das Inter­net”, das Web und die Social Media als nur für die Plat­tform facebook.com.
(Hier wieder, während der Tian’an­men-Platz inklu­sive sein­er Bedeu­tung und Funk­tion für Proteste gut vorstell­bar ist, ohne dass wir dazu jemals in Peking gewe­sen sein müssen, stellt sich mit der Erwäh­nung von face­book ein weit­eres Mal diese Form der Frage, was ist face­book eigentlich wirk­lich?)

Auf­gabe: Welche Bedin­gun­gen stellen Städte, und welche Bedin­gun­gen stellt das Inter­net für soziale Bewe­gun­gen? Vor welche Auf­gaben sehen sich Protestierende und Proteste Organ­isierende gestellt? Arbeite sowohl für alte soziale Bewe­gun­gen vor hun­dert Jahren her­aus, welche Rolle Städte als Medi­en spiel­ten, als auch für neue, welche Rolle das Inter­net für die gegen­wär­ti­gen Bewe­gun­gen spielt.

Über­lege auch, wie die sozialen Bewe­gun­gen die Stadt der Mod­erne verän­dert haben, und stell die Frage, ob neue soziale Bewe­gun­gen heute das Inter­net verän­dern.

 

Die Dimen­sion, dass das Inter­net Ressource und Infra­struk­tur ist, also Baustoff und Unter­bau, kommt neben den Funk­tio­nen als Transport‑, Spe­ich­er- und Kom­mu­nika­tion­s­medi­um in Betra­ch­tun­gen und Diskus­sio­nen zu kurz. World Wide Web und E‑Mail bauen auf der Infra­struk­tur Inter­net auf, bei­des brauchen wir wiederum für Social-Media-Plat­tfor­men wie Face­book, Youtube und Twit­ter, über die wir soziale Net­zw­erke bilden, mit denen schließlich etwas organ­isiert, getan, umge­set­zt wird.

Wir Men­schen bauen mit diesen Ressourcen und Infra­struk­turen neue Dien­ste, Plat­tfor­men und Organ­i­sa­tio­nen, die, wenn das Inter­net als Bedin­gung dieser Möglichkeit­en weg­fiele, sich auch wieder auflösen wür­den. Wikipedia oder die Social-Media-Net­zw­erke, die rund um die uni­bren­nt-Bewe­gung von Studieren­den im deutschsprachi­gen Raum 2009 ent­standen sind, oder Ini­tia­tiv­en wie „europe ver­sus face­book“, sind hier nur wenige von unzäh­li­gen Beispie­len. Das let­ztere Beispiel fällt in eine beson­dere Kat­e­gorie.

Piraten in der Stadt: die Netzbewegung und die Piratenpartei, gesellschaftliche Organisationen, denen das Internet als Bedingung ihrer Existenz vorausgesetzt ist.
Pirat­en in der Stadt: die Net­zbe­we­gung und die Piraten­partei, gesellschaftliche Organ­i­sa­tio­nen, denen das Inter­net als Bedin­gung ihrer Exis­tenz voraus­ge­set­zt ist.

Ana­log zu den Kämpfen um das Recht auf Stadt, geht es hier um das Recht auf Inter­net. So wie die Forderung mit Bezug auf die Stadt nicht allein darauf abzielt, in der Stadt leben kön­nen zu müssen, kann das Recht auf Inter­net nicht bei der Forderung auf Zugang beschränkt sein. Es geht um Mitbes­tim­mung der Regeln, die hier wie da gel­ten sollen, um Teil­habe an den Pro­duk­tion­s­mit­teln und demokratis­che Ausver­hand­lung der Pro­duk­tions­be­din­gun­gen.

Das Inter­net ist ana­log zur Stadt für viele der sozialen Bewe­gun­gen: ein Medi­um. Für manche Bewe­gun­gen ist es zudem ein oder das The­ma. Für die Netzaktivist_innen das zen­trale Anliegen.

Zwischen Modifikation, Transformation und Revolution

Hat sich durch das Inter­net alles geän­dert, oder bleibt eigentlich im Kern doch alles das Gle­iche?

Die Frage dominiert seit Jahren in unzäh­li­gen Facetten. Sie ste­ht oft am Beginn von Podi­ums­diskus­sio­nen, wird in Work­shops abge­wogen, beschäftigt das Feuil­leton.

Sind die occu­py-Proteste im Kern etwas Neues oder das Alt­bekan­nte nur mit neuen Medi­en?

Hat Youtube die Tak­sim-Platz-Proteste explodieren lassen?

Bleibt Ler­nen Ler­nen? Bleibt Lit­er­atur Lit­er­atur, bleiben Parteien Parteien und Lager Lager?

Oder sind Ler­nen, Lit­er­atur, Parteien und poli­tis­che Ein­stel­lun­gen tief­greifend­en Trans­for­ma­tio­nen unter­wor­fen?

Die Fragestel­lung trägt, wenn der­art all­ge­mein for­muliert und in ein dichotomes Korsett gezwängt, mehr zur Ver­dun­klung als zur Erhel­lung bei. Trotz­dem dominiert sie viele Debat­ten. Sie lähmt nicht nur die Debat­ten. Sie ste­ht dem Ver­ständ­nis der Phänomene im Weg.

Bis hier­her wurde das Inter­net als kom­plexe, mul­ti­funk­tionale Megac­i­ty beschrieben, die sich selb­st ständig ändert und ihrer­seits Wan­del evoziert.
Wie kön­nen in diesem flu­iden Zusam­men­spiel kom­plex­er Gemen­ge­la­gen Verän­derung oder Sta­bil­ität abge­gren­zt und bemessen wer­den? Wie lässt sich über die Rich­tung von Ein­flussnah­men sprechen?

Dazu möchte ich noch ein­mal ein Raster struk­tureller Dif­feren­zierun­gen vorschla­gen.

Wir kön­nen im Angesicht von Verän­derungs­druck auf Organ­i­sa­tio­nen zwis­chen Mod­i­fika­tion und struk­turellem Wan­del unter­schei­den. Neben diesen bei­den Kat­e­gorien ist als Möglichkeit freilich offen zu hal­ten, dass Organ­i­sa­tio­nen vol­lkom­men unverän­dert bleiben; vielle­icht weil sie keinem Verän­derungs­druck aus­ge­set­zt sind. Und schließlich ist die Emer­genz vol­lkom­men neuer Organ­i­sa­tions­for­men als Möglichkeit zu bedenken; also von neuar­ti­gen sozialen Gebilden, die sich nicht ein­fach als Entwick­lung aus Vorgänger­sta­di­en ableit­en lassen. Mit Organ­i­sa­tio­nen bzw. sozialen Gebilden seien hier For­men der Verge­sellschaf­tung gemeint, also gesellschaftliche Gebilde von der kle­in­sten Ein­heit der Gruppe (z.B. Kle­in­fam­i­lie) bis hin zu Funk­tion­ssys­te­men (z.B. Wirtschaft) und sozialen Insti­tu­tio­nen (z.B. Krieg).

Es ist vorstell­bar, dass Men­schen, Grup­pen, Organ­i­sa­tio­nen im Zeital­ter der dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion durch die Real­ität des Inter­nets unbee­in­flusst bleiben. Ein gedachter Koef­fizient für Wan­del läge bei Null.

Am anderen Ende der Skala disku­tieren wir, ob sich das Ganze unser­er Gesellschaft, und die ist in der glob­al­isierten Gegen­wart bere­its als Welt­ge­sellschaft zu beze­ich­nen, radikal ändert. Der Koef­fizient läge bei hun­dert. Möglicher­weise wird alles vom Kopf auf die Füße gestellt, die Umkehrung der Ver­hält­nisse, das, wofür das Wort Rev­o­lu­tion ste­ht.
Allerd­ings, eine Skala von null bis hun­dert für alles vom einzel­nen Indi­vidu­um zur Welt­ge­sellschaft ist zur Sys­tem­a­tisierung so unhan­dlich wie die ein­gangs ange­sproch­ene dichotome Frage.

Daher der Vorschlag der Kat­e­gorien, mit denen in der poli­tis­chen Bil­dung gear­beit­et wer­den kann:

  • Keine Verän­derung: [.. soziales Gebilde ein­set­zen ..] bleibt unverän­dert.
  • Die Anpas­sung der Form [.. ..] bleibt auf ein­fache Mod­i­fika­tion beschränkt.
  • Die Form der [.. ..] ist struk­turellem Wan­del unter­wor­fen.
  • Emer­genz: [.. ..] kann nur als neuar­tige Form sozialer Organ­i­sa­tion ver­standen wer­den.

Auf­gabe: Ordne ent­lang des Rasters Organ­i­sa­tions­for­men, in die du einge­bun­den bist, wie Fam­i­lie, Fre­un­deskreis, Vere­in, Unternehmen, Kirche usw.

Ver­suche Beispiele für Organ­i­sa­tio­nen zu find­en, die es nur Dank Inter­net gibt und die in der Form vorher nicht existieren hät­ten kön­nen. Suche Gegen­beispiele gesellschaftlich­er Organ­i­sa­tions­for­men, die seit der Emer­genz des Inter­net ver­schwun­den sind oder abse­hbar vol­lkom­men ver­schwinden wer­den. Wahrschein­lich wird für jedes Feld der Matrix möglich sein, Beispiele zu benen­nen.

Unter­suche exem­plar­isch auch noch die Schulk­lasse, die Organ­i­sa­tion der Part­ner­schaftssuche, Dor­fge­mein­schaften, das Gesund­heits- oder Ver­lagswe­sen, die Anhänger­schaft ein­er beliebi­gen Musik­band, Kirche, Poli­tik­erIn oder ein­er sozialen Agen­da, die von so vie­len Men­schen aktiv und kollek­tiv ver­fol­gt wird, dass von ein­er sozialen Bewe­gung gesprochen wird.

 

Die Organisation von Informationskanälen

Die Stadt als Labor der Beschle­u­ni­gung und als Erleb­nis­raum der mod­er­nen Massenkul­tur bedi­ent sich des Medi­ums Tage­spresse. Dieses Medi­um über­mit­telt den Charak­ter und das Geschehen der Stadt, für die es gemacht wird. Ander­er­seits ist die Stadt auch das Medi­um ihrer Tage­spresse,“

schreibt Matthias Schreiben­er im zitierten Auf­satz „Die Stadt als Medi­um“. ((Schreiben­er 1990, 148))

Das Medi­um Fernse­hen dage­gen, „das schnell, müh­e­los und gle­ich­för­mig Städter wie Land­be­wohn­er erre­icht“, ohne dem aktuellen Geschehen vor Ort Vor­rang einzuräu­men, „niv­el­liert den Unter­schied von Stadt und Land“. ((ebd., 161))

Wenn die regionale Stadtzeitung das Medi­um des urba­nen Zen­trums ist und Fernse­hen jenes des bre­it­en (nationalen) Raums zwis­chen Zen­trum und Periph­erie, was sind Inter­net, Web und Social Media dann? Nun, zuallererst sind sie keine pro­fes­sionell erstell­ten und organ­isierten Infor­ma­tion­ssender, die uns zum Emp­fang ange­boten wer­den, wie im Fall der klas­sis­chen Massen­me­di­en.

Wandzeitung in Guangzhou
Wandzeitung in Guangzhou

Um die Social Media zu ver­ste­hen, müssen wir zunächst die Organ­i­sa­tions­form herkömm­lich­er Medi­en in Erin­nerung rufen. Im Zusam­men­spiel vier­er Schlüs­sel­po­si­tio­nen wird fest­gelegt, wie eine Zeitung, Zeitschrift, ein Radio- oder Fernsehsender bespielt wird, das heißt: welche Infor­ma­tio­nen mit welch­er Tonal­ität über diese Kanäle an Leser‑, Hör­er- und SeherIn­nen herange­tra­gen wer­den.

Das Man­age­ment dieser Pro­duk­te heißt bei den klas­sis­chen Massen­me­di­en Redak­tion, die Eigen­tümer manch­mal auch Her­aus­ge­ber und die Arbeiter_innen Jour­nal­is­ten. Unter die weit­eren Pressearbeiter_innen fall­en ua. die Pressesprecher_innen, Referent_innen oder Öffentlichkeitsarbeiter_innen, die Inhalte in den Massen­me­di­en unterzubrin­gen ver­suchen.

Die Produzent_innen in diesem hier­ar­chis­chen Sys­tem sind aus­ge­bildete Professionist_innen, die für diese Arbeit ent­lohnt wer­den. Sie sind ökonomisch von den Regeln des Sys­tems abhängig und arbeit­en nach den Regeln des Sys­tems.

Die weit­ere Schlüs­sel­po­si­tion in der Organ­i­sa­tions­form klas­sis­ch­er Massen­me­di­en beset­zen die Kund_innen, die die Pro­duk­tion und den Prof­it der Eigen­tümer bezahlen. In der Regel sind das die großen Wirtschaft­szweige, die Wer­bung schal­ten. In gerin­gerem Maße spie­len vielle­icht auch Leser‑, Hör­er- und Seher_innen ein Rolle, soweit sie die Massen­me­di­en mit­fi­nanzieren kön­nen oder als imag­iniert­er Markt für die Platzierung von Wer­be­bud­gets berech­net wer­den.

Auf­gabe: Bilde vier oder fünf Grup­pen, je eine für Eigen­tümer, Man­age­ment (Redakteur_innen), Journalist_innen sowie Pressearbeit_innen und option­al die Vertreter_innen kap­i­tal­stark­er Wirtschaft­szweige. Lass pro Gruppe her­ausar­beit­en, in welchen Abhängigkeit­en sie agieren, was ihre Ziele und Beurteilungskri­te­rien für Erfolg sind. Disku­tiere dann, wie die ver­schiede­nen Schlüs­sel­po­si­tio­nen im Zusam­men­spiel Ein­fluss auf die Auswahl, Pro­duk­tion und Fär­bung von Infor­ma­tio­nen auswirken wer­den.

 

Von diesen hier skizzierten Bedin­gun­gen dafür, wo welche Infor­ma­tion in welchem Rah­men eines massen­medi­alen Kanals emp­fang­bar ist, unter­schei­det sich der Organ­i­sa­tion­s­modus der Social Media von Grund auf. Oder bess­er: der Dis­tri­b­u­tion­s­modus von Infor­ma­tion über Social-Media-Plat­tfor­men.

Was einzelne lesen, hören, sehen, ist in den Social Media nicht der Auswahl von weni­gen pro­fes­sionellen Sendern und Print­pro­duk­ten geschuldet. Das wird von der je eige­nen Posi­tion im Geflecht sozialer Net­zw­erke bes­timmt.

But, how social a medium is facebook?

Der Begriff der sozialen Net­zw­erke ist es, von dem die Social Media in Abgren­zung zu klas­sis­chen Mass Media den ersten Begriff­steil übernehmen. Soziale Net­zw­erke wer­den durch Beziehun­gen zwis­chen Men­schen oder Grup­pen von Men­schen kon­sti­tu­iert.

Der Begriff­steil “sozial” bringt keine Wer­tung zum Aus­druck. Er ist in der Diszi­plin der Net­zw­erk­analyse geschuldet und beze­ich­net lediglich, welch­er Art ein Net­zw­erk ist. Die Diszi­plin der Net­zw­erk­analyse unter­sucht schließlich nicht allein Net­zw­erke zwis­chen gesellschaftlichen Akteur_innen, son­dern all­ge­mein die Syn­tax zwis­chen ver­bun­de­nen Ele­menten.

Face­book und Twit­ter sind genau genom­men nicht Social Media. Und sie sind keine sozialen Net­zw­erke son­dern Unternehmen und Plat­tfor­men, ver­mit­tels der­er wir beste­hende Beziehun­gen zwis­chen Men­schen und Men­schen­grup­pen nach­bauen, erweit­ern und darüber hin­aus zusät­zliche neue Beziehun­gen mit anderen einge­hen. Es sind Plat­tfor­men, die tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel zur dauer­haften Kon­struk­tion und zum Spe­ich­ern von Beziehungsnet­zw­erken bieten. Und klar, sie verän­dern beziehungsweise erweit­ern unsere Arten und Weisen, miteinan­der zu kom­mu­nizieren. Sie leg­en uns Tech­niken nahe, wie wir den Trans­port von Infor­ma­tio­nen automa­tisieren kön­nen.

Das “sozial” in Social Media bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Auswahl, Pro­duk­tion und Tonal­ität von Infor­ma­tio­nen über die sozialen Net­zw­erks­beziehun­gen organ­isiert wer­den; und nicht ent­lang der Logik der klas­sis­chen Medi­en.

Die Bewohner­In­nen der Megac­i­ty “Inter­net” sind in Sachen Infor­ma­tion­ssamm­lung, ‑auf­bere­itung und ‑weit­er­leitung grosso modo Amateur_innen, keine hier­für aus­ge­bilde­ten, bezahlten Professionist_innen. Sie sind Prosument_innen, die an den Gesprächen in den ver­schieden­sten Vierteln, auf Foren und bei Ver­anstal­tun­gen in der Stadt mehr oder weniger aktiv teil­haben.

Obwohl es in Net­zw­erken eben­falls Schlüs­sel­po­si­tio­nen gibt, haben diese nichts mit jenen der Organ­i­sa­tion klas­sis­ch­er Massen­me­di­en gemein. Welchen Mix an Infor­ma­tio­nen in welch­er Geschwindigkeit und mit welch­er Tonal­ität wir über Social-Media-Plat­tfor­men emp­fan­gen, hat mit der Auswahl und Steuerung unser­er Beziehun­gen zu tun.

Das Inter­net ist dabei wed­er das Medi­um der Urban­ität wie die Stadtzeitung noch das Medi­um für das Mit­tel­maß der nationalen Kul­turindus­trie wie das Fernse­hen, son­dern am ehesten das Medi­um der Repro­duk­tion unseres Milieus und der je eige­nen Inter­essen. Die Verdich­tung der Infor­ma­tio­nen passend zu den eige­nen Vor­lieben und Weltan­schau­un­gen wird seit weni­gen Jahren mit dem Begriff der Fil­ter Bub­ble beschrieben, einem Sozi­olekt der Net­zkul­tur, der ursprünglich die Auswirkung der Per­son­al­isierung von Infor­ma­tion­sange­boten durch Google-Dien­ste und Plat­tfor­men wie Face­book the­ma­tisieren sollte. ((Siehe dazu die Aufze­ich­nung des bekan­nten Vor­trags von Eli Paris­er (2011).)) Durch die per­son­al­isierte Anzeige uns passender Infor­ma­tio­nen wür­den Men­schen nur in ihren Welt­sicht­en bestärkt und keine neu­trale Über­sicht zu gesellschaftlichen The­men mehr bekom­men.

Der Sog zur Repro­duk­tion ein­er eigen­tüm­lichen kleinen Welt geht freilich von den ver­füg­baren klas­sis­chen Medi­en stärk­er aus als von der Megac­i­ty „Inter­net“. Die Repro­duk­tion des eige­nen Umfelds ist etwas, das soziale Net­zw­erke unab­hängig davon tun, ob sie auf ein Leben abseits der Megac­i­ty beschränkt sind, ob sie nur in einem begren­zten Stadt­teil verbleiben oder sich durch die Stadt span­nen. Die Wahrschein­lichkeit aktiv­er Prosument_innen ist bei klas­sis­chen Massen­me­di­en nahezu aus­geschlossen. Die Wahrschein­lichkeit, eigene Welt­bilder und Hor­i­zonte in Frage zu stellen, bei einem aktiv­en, ver­net­zten Leben in der Megac­i­ty ungle­ich höher.

Stellen wir die klas­sis­chen Massen­me­di­en den Social Media noch ein­mal gegenüber. Wo verorten wir erstere im Geflecht der Stadt? Das ist ein­fach und lässt sich prak­tisch visu­al­isieren, zum Beispiel am Stadt­plan von Wien oder ein­er beliebi­gen Lan­deshaupt­stadt. Die Pro­duk­tion­sstät­ten der Medi­en­häuser sind schnell markiert.

In Wien begän­nen wir mit dem ORF-Zen­trum am Küniglberg, dem Funkhaus in der Argen­tinier­straße und dem Sendestu­dio von Ö3 in Heili­gen­stadt. Dann wür­den wir die Häuser am Stadt­plan iden­ti­fizieren, in denen die Kro­nen­zeitung, der Kuri­er usw. pro­duziert wer­den. Wir zeich­nen alle Orte ein, wo Tageszeitun­gen und Zeitschriften gemacht wer­den. Markiert sind schließlich einige wenige Gebäude in ein­er großen Stadt.

Die Gebäude iden­ti­fizieren wir unter anderem als Arbeit­splätze, an denen Belegschaften das pro­duzieren, wofür sie bezahlt wer­den. Visu­al­isieren wir als näch­stes, wo über­all die in den Medi­en­häusern pro­duzierten Inhalte bei den Rezipient_innen ankom­men, ergibt sich schnell das Bild von weni­gen Bün­deln mit unzäh­li­gen Strahlen.

Die Bün­del der Kro­nen­zeitung und des Fernse­hens wer­den die dicht­esten sein, jene von Der­Stan­dard und DiePresse ein Vielfach­es aus­gedün­nter. Erstere wer­den wahrschein­lich über­all hin­re­ichen, während die Bün­del des Kul­tursenders Ö1 oder der Zeitschrift „Die ganze Woche“ in unter­schiedlichen Stadt­teilen mehr oder weniger Strahlen aufweisen wer­den. ((Eine lohnende wiewohl anspruchsvolle Auf­gabe wäre, mit Vilém Flusser den Bün­deln (Latein: fasces) der Infor­ma­tions­flüsse nachzuge­hen und die Form der Bün­delung ent­lang ver­schieden­er Medi­en zu ver­gle­ichen. „Die Medi­en bilden von den Zen­tren, den Sendern, aus­ges­trahlte Bün­del. […] Die Struk­tur der von tech­nis­chen Bildern beherrscht­en Gesellschaft ist dem­nach fascis­tisch, und zwar ist fascis­tisch nicht aus irgendwelchen ide­ol­o­gis­chen, son­dern aus ‘tech­nis­chen’ Grün­den“, ver­merkt Flusser (Flusser 1999, 68). Unter­suche, wie weit sich die mit dem Inter­net ver­bun­dene Hoff­nung auf plu­ral­is­tis­chere, demokratis­che Bün­del bewahrheit­et.)) Vor uns span­nt sich ein Dia­gramm von Sendern und Empfän­gerIn­nen auf, das für klas­sis­che Massen­me­di­en ste­ht.

Zeich­nen wir nun auf dem gle­ichen Stadt­plan die Verbindungslin­ien der Social Media ein, oder stellen wir uns diese Lin­ien bess­er nur vor, ergibt sich offen­sichtlich ein vol­lkom­men diame­tral anderes Bild.

Auf­gabe: Erforsche die Stadt auf der Suche nach sozialen Net­zw­erken, die für die Pro­duk­tion, Verteilung und Inter­pre­ta­tion von Infor­ma­tio­nen wichtig sind. Wie wer­den in und durch die Stadt Beziehungs­ge­flechte aufrechter­hal­ten, über die Infor­ma­tio­nen und Wis­sen aus­ge­tauscht oder gener­iert wer­den? Welche Dimen­sio­nen kom­men bei von Social-Media-Plat­tfor­men gestützten Net­zw­erken gegenüber jenen im Gewebe der Stadt hinzu, welche fall­en weg? Und was befördert da wie dort den Sog zur Fil­terblase?

 

Durch Wer­bung finanzierte Massen­me­di­en wer­den größ­ten­teils durch die Anzeigen der großen Wirtschaft­szweige finanziert. Wie wer­den das Inter­net, das Web, und wie wer­den in unser­er Megac­i­ty die riesi­gen Shop­ping-Malls, Vergnü­gungsparks und Kinocen­ter der Face­book Inc. finanziert?

Produktive Selbst-Beschäftigung und Überwachung

Die Nutzung von Face­book ste­ht heute allen offen und ist kosten­los. Konz­erne wie die Face­book Inc. finanzieren das mit­tler­weile zwar auch über Wer­beein­nah­men, vor allem über die vorgeschossene Erwartung­shal­tung der Anleger_innen.

Die Ware von Face­book und Co. sind die Dat­en der Nutzer_innen, die Benutzer­pro­file, also die Bewohner_innen unser­er Megac­i­ty, und nicht zulet­zt deren Beziehun­gen und Inter­ak­tio­nen. Die Bevölkerun­gen der Social Media Plat­tfor­men arbeit­en stetig an qual­i­ta­tiv besseren wie quan­ti­ta­tiv dichteren Daten­sätzen über sie selb­st und in Summe über die gesamte Pop­u­la­tion dieser Welt, ihr Ver­hal­ten, ihre Ein­stel­lun­gen, ihre Geschicht­en, ihre losen und ihre engeren Beziehun­gen.

Ein Daten­satz ist Geld wert. Die Infor­ma­tio­nen über Bewohner_innen wer­den in der Megac­i­ty gehan­delt, trans­portiert, aggregiert, selb­stver­ständlich gespe­ichert und zunehmend aus­genutzt, um uns etwas schmack­haft zu machen, um unseren poten­ziellen Wert als Kund_innen zu lukri­eren, unsere Bewe­gun­gen und Hand­lun­gen in sto­chastis­chen Mod­ellen hochzurech­nen. Die Dat­en, zunehmende Unmen­gen an Dat­en, und die Inter­essen an ihrer Nutzung liegen im Inter­net mehr als jemals in der Stadt der Mod­erne bei den Regieren­den.

Big Data ist der aktuell Kon­junk­tur erfahrende Begriff dieser Entwick­lun­gen, im Zuge der­er Herrschende die Hoff­nung entwick­eln, deviantes Ver­hal­ten und (ihnen) poten­ziell gefährliche Bewohner_innen ver­mit­tels Big-Data-Mod­el­lierun­gen aus­rech­nen zu kön­nen, bevor es über­haupt zu solchen Hand­lun­gen kommt.

Die massen­haft anfal­l­en­den Dat­en der Bewohner_innen der Megac­i­ty dienen nicht allein wirtschaftlichen Zweck­en, son­dern natür­lich der Überwachung und Kon­trolle der Bevölkerung, des Mobs. Wir find­en hier nichts anderes als eine weit­ere Par­al­lele vor, wie wir die Meta­pher der Großs­tadt pro­duk­tiv für unseren Blick auf Inter­net, Web und Social Media nutzen kön­nen.

Auf­gabe: Ver­gle­iche die Entwick­lun­gen der let­zten Jahrzehnte in Städten mit den Entwick­lun­gen des Inter­nets, Webs und der Social-Media-Plat­tfor­men. Wie äußern sich da wie dort: Kom­mod­i­fizierung, Ausverkauf und Ein­schränkung öffentlichen Raums, For­men der Kon­trolle und Überwachung, Ver­drän­gung lokaler Unternehmen durch glob­ale Konz­ern­struk­turen, wider­ständi­ge Ini­tia­tiv­en und Arbeitsweisen?

Disku­tiere die Frage zwei­gleisig, wie wir bei einem Leben in der Stadt und im World Wide Web selb­st­bes­timmt den Ver­lock­un­gen der Städte wider­ste­hen kön­nen und ob umgekehrt die Dystopie voll­ständi­ger Kon­trolle im Sinne Herrschen­der über­haupt real­is­tisch ist.

 

Der Beginn der dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion, dann das Inter­net, bald darauf das Web und schließlich die Emer­genz der Social Media haben einen unab­se­hbar großen Raum poten­tieller Entwick­lun­gen unser­er Gesellschaften eröffnet. Zu den fak­tisch wie poten­ziell pos­i­tiv­en, emanzi­pa­torischen Auswirkun­gen gehören die fak­tisch wie poten­ziell neg­a­tiv­en, uns aus­liefer­n­den Fol­gen. Es sind das die zwei Seit­en der­sel­ben Medaille.

Sich vom Inter­net abzuwen­den ist als Reak­tion darauf so legit­im, wie das gute hun­dert Jahre früher die Land­flucht als Reak­tion auf die Großs­tadt der Mod­erne war. Den gesellschaftlichen Entwick­lun­gen, die durch diese neuen Phänomene evoziert wer­den, kann die Einzelne deswe­gen kaum ent­ge­hen; und unsere Gesellschaft jeden­falls gar nicht.

Stadt wie Inter­net sind kom­plexe Infra­struk­turen und Medi­en, in denen wir uns mehr oder weniger wider­ständig oder kon­formistisch, naiv oder gegenüber unseren Lebens­be­din­gun­gen ver­ständig bewe­gen, die Ressourcen und Infra­struk­turen pas­siv­er oder aktiv­er nutzend, die Wirkung der Medi­en so oder so mitbes­tim­mend.

Das tun wir auch als poli­tis­che Bildner_innen. Unsere Gegen­wart, unsere Beziehun­gen, unsere Hand­lun­gen, unsere Beteili­gun­gen und unsere Beispiele spie­len in diesem wie in jen­em Raum eine gewisse Rollen. Eine äußerst begren­zte, aber nichts­destotrotz nen­nenswerte.

Wir nutzen heute bere­its immer öfter Inter­net, Web und Social Media als Transport‑, Kom­mu­nika­tions- und Spe­icher­medi­um, und auch als Ressource und als Infra­struk­tur; selb­st da, wo wir das wenig reflek­tiert und eher beiläu­fig tun. Wir nutzen die Möglichkeit­en unser­er Zeit.

Das tun auch Soziale Bewe­gun­gen.

 

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Big Boss is watching you

Die prekäre Situation der gläsernen Lohnabhängigen

Mit diesem Beitrag soll auf ein Set von Prob­lem­la­gen aufmerk­sam gemacht wer­den, das sehr viele Men­schen und unser aller gesellschaftliche Beziehun­gen berührt, für das bis­lang aber kein Prob­lem­be­wusst­sein zu find­en ist. Die Prob­lematik ist der Trag­weite zum Trotz weit­ge­hend uner­forscht, in ihrem Wesen, ihren Bedin­gun­gen und Auswirkun­gen. Es geht, wie Titel und Unter­ti­tel andeuten, um die prekäre Sit­u­a­tion Lohn­ab­hängiger in Bezug auf eine spez­i­fis­che Form des Aus­geliefert­seins. Bei dieser spez­i­fis­chen Form des Aus­geliefert­seins Lohn­ab­hängiger geht es nicht ein­fach um Überwachung oder nur um Überwachung. Es geht im Kern nicht um die durch den tech­nol­o­gis­chen Wan­del bed­ingt man­nig­faltigeren, ein­facheren und bil­ligeren Optio­nen Lohn­ab­hängige zu überwachen. Es geht nicht um Pri­vat­sphäre am Arbeit­splatz. Es geht, daher der an Orwell gemah­nende Titel, um viel viel mehr.

Worauf grün­det sich die ange­sproch­ene spez­i­fis­che Form des Aus­geliefert­seins, was ist das Spez­i­fis­che der Form? Geht es allein darum, dass es sich um Lohn­ab­hängige han­delt oder ist da mehr zu beacht­en? Inwiefern ver­di­enen Abhängigkeit­en und Inter­essensla­gen mehr Prob­lem­be­wusst­sein? Plus, wie sieht es mit Möglichkeit­en aus, wie ist es um Ansätze bestellt, gesellschaftlich uner­wün­schte Auswirkun­gen einzudäm­men bzw. mit­tels proak­tiv­er Ein­griffe in die bedin­gende Struk­tur auszuschließen?

Mit diesen Fra­gen beschäftigt sich fol­gen­der Aufriss. In mehreren sys­tem­a­tis­chen Bildern ver­suche ich in die prekäre Sit­u­a­tion der gläser­nen Lohn­ab­hängi­gen einzuführen und das Spez­i­fis­che dieser Form des Aus­geliefert­seins her­auszuar­beit­en. Die Ein­blicke in die Prob­lem­lage ver­danken sich dabei der langjähri­gen Zusam­me­nar­beit mit Betriebsrät_innen, dem Aus­tausch mit Haup­tamtlichen der GPA-djp und dem Kon­takt mit Daten­schutz- und Netzaktivist_innen.

Bild 1: Arbeiten in der MitM-Umgebung

Begin­nen wir mit ein­er der vier grundle­gen­den Bedin­gun­gen und Ein­flussgrößen unser­er spez­i­fis­chen Form des Aus­geliefert­seins, der „dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion“. Wir find­en uns heute in ein­er weit­ge­hendst dig­i­tal­isierten Arbeitswelt wieder. Fol­glich sind die basalen Eigen­schaften und Prob­leme dig­i­taler Kom­mu­nika­tion zu bes­tim­menden Struk­turbe­din­gun­gen auch der Arbeitswelt gewor­den. Diese Vorbe­din­gun­gen sollen hier fol­gen­der­maßen – in ein Bild – zusam­menge­fasst wer­den:

Gehen wir von der Zeich­nung des sim­plen Sender-Empfänger-Mod­ell aus. Wir senden, spe­ich­ern, emp­fan­gen heute kaum mehr ana­log son­dern dig­i­tal. Wir senden „dig­its“, Zif­fern, unsere Infor­ma­tio­nen nicht etwa als Buch­staben son­dern als binäre Zahlen, Nuller und Einser, bits. Diese bits, die Einzel­teile aus denen die Dat­en zusam­menge­set­zt sind, sind zwis­chen Senderin S/E und Empfän­gerin E/S (a) sim­pel, (b) schnell, © bil­lig und ein­fach zu (d) automa­tisieren (1) kopier‑, (2) spe­ich­er- und (3) verän­der­bar.

Das was S/E und E/S an Infor­ma­tion aus­tauschen, sind also Nuller und Einser, die als exak­te Daten­paket­skopi­en sowohl bei S/E und E/S zu find­en sind. Sowie an allen Schnittstellen ent­lang ihrer Datenüber­tra­gung.

Diese dig­i­tale Ord­nung bringt unzäh­lige Vorteile mit sich. Unter anderem liegen die in der erle­ichterten Vervielfäl­ti­gung, schnelleren Über­tra­gung, flex­i­blen Bear­beitung, bil­li­gen Ablage oder weit­eren Reich­weite von Infos beziehungsweise Dat­en. Die bits sind heute bere­its über­all und sind über­all hin über­trag- und kopier­bar. Denken wir an Datenk­a­bel oder kabel­lose Über­tra­gun­gen, an Net­zw­erke oder unsere einzel­nen „devices“, seien das Smart­phones, klas­sis­che PCs, Pads oder Kam­eras, Herzfre­quenzmess­er, Uhren, Bussta­tion-Infotafeln, Nav­i­ga­tion­s­geräte.

Ein Prob­lem, das mit dieser dig­i­tal­en Ord­nung ein­her geht, hat mit all den oben genan­nten Vorteilen zu tun und damit, dass sie von Drit­ten miss­braucht wer­den kön­nen, die sich in die Datenüber­tra­gung zwis­chen S/E und E/S ein­schal­ten. Für diese Drit­ten, die in der Regel unbe­merkt bleiben, hat sich seit langem der Begriff „Man in the Mid­dle“ (MitM) etabliert.

Bild 1: sim­ples Sender_in-Empfänger_in-Mod­ell mit Man in the Mid­dle

Über­all wo sich Dritte in Datenüber­tra­gung ein­schal­ten, kön­nen sie unsere bits’n’bytes poten­tiell mitkopieren, für sich spe­ich­ern, aber auch löschen oder an den Daten­paketen etwas verän­dern. Sie kön­nten außer­dem Nuller und Einser an E/S oder S/E schick­en, die S/E oder E/S als Quelle aus­geben, aber Fälschun­gen sind. Wir sprechen dann von „Man in the Mid­dle-Attack­en“. (Hier wäre nicht nur an men­schliche Kom­mu­nika­tion etwa per E‑Mail, Chat, Mes­sag­ing-Sys­te­men oder per Tele­fonate zu denken son­dern an jede Datenüber­tra­gung zwis­chen Geräten, Spe­icherorten, Pro­gram­men.)

Diese MitM-Prob­lematik ist für sich genom­men kein Spez­i­fikum der Arbeitswelt. Alle sind betrof­fen, jede Datenüber­tra­gung davon berührt. Schauen wir uns die Schutz- und Gegen­maß­nah­men an, sieht das Bild jedoch etwas verän­dert aus.

Wie sehen die aus? Die Gegen­maß­nah­men sind im Prinzip banal, in der Umset­zung lei­der nicht. Ver­schlüs­selte Datenüber­tra­gung ver­hin­dert, dass Angreifer in der MitM-Posi­tion mit den Nullern und Ein­sern etwas anfan­gen kön­nen, die wir über­tra­gen. Das Sys­tem des Sig­nierens von Zer­ti­fikat­en schafft Über­prüf­barkeit, dass Daten­pakete wirk­lich von S/E und E/S kom­men und über die gesamte Strecke der Datenüber­tra­gung nicht ein bit verän­dert wurde. Diese bei­den Gegen­maß­nah­men schließen, wie das Bild schon zeigt, die Möglichkeit von MitM nicht aus, schlicht weil das keinen Sinn macht. Sie unterbinden aber, dass aus der MitM-Posi­tion her­aus Attack­en erfol­gre­ich sind, dass unsere Dat­en ver­wen­det oder gefälschte Infor­ma­tio­nen einge­speist wer­den.

Das alles set­zt voraus, dass wir uns an die gold­ene Regel hal­ten, wie sie uns von allen Daten­schützern immer als vor­rangig­stes Prinzip genan­nt wer­den wird: nie die Kon­trolle über die eige­nen Geräte abgeben. Haben wir die ein­mal ver­loren, kön­nen wir nicht mehr sich­er sagen, dass wir die Regeln bes­tim­men, nach denen unsere Geräte das machen, was wir auf ihnen und mit ihnen tun wollen. Ein Com­put­er, zu dem wir den Zugang abgegeben haben, gilt als unsich­er, es ist poten­tiell fremdbes­timmt.

Ist ein Gerät ein­mal unsich­er, kön­nen wir noch soviel und kom­pe­tent ver­schlüs­seln, wir dür­fen dem Gerät selb­st nicht mehr ver­trauen. Über­all kann eine ver­steck­te Hin­tertür einge­baut sein. Wir kön­nen noch soviel über­prüfen, ob S/E und E/S wirk­lich gesichert die Sender- und Empfänger-Per­so­n­en, ‑Accounts, ‑Pro­gramme, ‑Spe­icherorte sind, als die sie sich iden­ti­fizieren. Den Sys­te­men der Iden­ti­fika­tion ist nicht mehr zu trauen. Deswe­gen sind Daten­schutzprofis radikal, wenn wir sie fra­gen, was da dann noch zu machen ist. Nichts. Ist die Kon­trolle über die eige­nen Geräte ein­mal abgegeben, ist sie für immer ver­loren.

Genau das ist nun freilich die spez­i­fis­che Aus­gangs­be­din­gung der Arbeitswelt. Lohn­ab­hängige arbeit­en auf Geräten, über die sie nie Kon­trolle hat­ten.

Die dig­i­tale Infra­struk­tur, mit der Lohn­ab­hängige im Arbeitsver­hält­nis zu arbeit­en haben, ist für sie unsich­er. Die Regeln, die auf Arbeits­geräten, in den Net­zw­erken, auf den Servern im Betrieb gel­ten, wer­den von der Unternehmensführung bes­timmt. Das Unternehmen ist der omnipo­tente und omnipräsente Man in the Mid­dle jed­er dig­i­tal­en Oper­a­tion im Betrieb.

Damit wäre das erste Bild vorgestellt. Es ist grundle­gend, beschreibt die prekäre Sit­u­a­tion der Lohn­ab­hängi­gen aber noch nicht. Es beze­ich­net lediglich eine Aus­gangslage: Lohn­ab­hängige arbeit­en heute in einem dig­i­tal­en Umfeld, das dem MitM=Unternehmen volle Kon­trolle über alle bits’n’bytes zulässt. Wie ein­gangs dieses Abschnitts angedeutet, würde ich diese Aus­gangslage als eine der vier Bedin­gun­gen der spez­i­fis­chen Form des aus­geliefert seins Lohn­ab­hängiger anse­hen. Es han­delt sich um die rel­a­tiv neueste, also am wenig­sten analysierte Ein­flussgröße. Die anderen sind dage­gen bekan­nt:

  • das durch den Kap­i­tal­is­mus bed­ingte Ver­hält­nis der Lohn­ab­hängigkeit sel­ber, das die Arbei­t­en­den zum Verkauf ihrer Arbeit­skraft an das Kap­i­tal zwingt,
  • dann die rechtlichen Rah­menbe­din­gun­gen, von denen hier noch zu sprechen sein wird,
  • und schließlich die Frage der poli­tis­chen Macht der organ­isierten Arbei­t­en­den, im Betrieb, der Branche, dem Staat beziehungsweise weltweit.

Bild 2: Bits kontrollieren, Daten aggregieren

Es dringt Mitte des zweit­en Jahrzehnts des 21. Jahrhun­derts immer mehr ins bre­ite Bewusst­sein vor, dass wir nicht kon­trol­lieren kön­nen, wer wo Dat­en über uns hat und was mit diesen Dat­en geschieht. Es lässt sich nicht mehr ver­hin­dern, dass Staat und Behör­den, dass Infra­struk­tu­ran­bi­eter und Sozialver­sicherun­gen, dass Unternehmen und Vere­ine detail­lierte Dat­en über uns besitzen, gespe­ichert in bits’n’bytes … und mithin allzu ein­fach kopier‑, ver­li­er- und verknüpf­bar. Die Dat­en, was sie über uns aus­sagen, wie sehr sie in die Tiefe gehen, was sich mit ihnen anstellen lässt, all das ist ver­schieden­er Natur. Es macht einen Unter­schied, dass der Han­del­skonz­ern aus unseren Einkäufe einiges über einen ganzen Haushalt errech­nen kann, was ein AMS aus „Kun­den­dat­en“ über uns weiß, oder ob Vorge­set­zte wis­sen, wo wann auf welch­er Straße Mitarbeiter_innen wie schnell und mit welchem Ver­brauch gefahren sind.

Der erste große Unter­schied liegt im Abhängigkeitsver­hält­nis unab­hängig irgendwelch­er Daten­la­gen, also bevor wir davon aus­ge­hen, dass eine Behörde, ein Unternehmen oder unser Arbeit­ge­ber Dat­en über uns sam­melt. Unsere Posi­tion gegenüber dem Staat ist die der Bürger_in. Den Unternehmen ste­hen wir als Nutzer_innen, Kund_innen, Konsument_innen gegenüber. Und in der Arbeit sind wir Arbeiter_innen, Angestellte oder Dienstnehmer_innen gegenüber Vorge­set­zten. Für jede dieser Dimen­sio­nen gibt es nun eigene spez­i­fis­che Rechtsver­hält­nisse, unter­schiedliche Möglichkeit­en der Kon­trolle bzw des Ein­spruchs, der Rechts­durch­set­zung im Fall des Fall­es.

Ein weit­er­er großer Unter­schied zwis­chen den Ver­hält­nis­sen (1) Staat-Bürg­er_in­nen, (2) Unternehmen/Kund_in, (3) Betrieb/Lohnabhängige liegt in den ver­schiede­nen Inter­essensstruk­turen und in weit­er­er Folge den Prak­tiken, Kul­turen. Diese Dif­ferenz bleibt auch einge­denk dessen rel­e­vant, dass die Prak­tiken der Kon­trollge­sellschaft und des Neolib­er­alsmus da wie dort auf dem Vor­marsch sind.

Umgekehrt beste­hen inner­halb der oben unter­schiede­nen Ver­hält­nisse Dif­feren­zen; also etwa in den Inter­essen der Geheim­di­en­ste oder Krankenkassen, zwis­chen den Prak­tiken lokaler Buch­händler und dem weltweit­en Ver­sand­han­del­skonz­ern, bezüglich der Man­age­men­tkul­tur beispiel­weise im Call-Cen­ter oder am Bau.

Die Inter­essen, gängige Prak­tiken und Kul­turen bes­tim­men weit­ge­hend, wo welche Dat­en erfasst wer­den und wie mit ihnen umge­gan­gen wird. Bei all der daraus entste­hen­den Band­bre­ite bleiben die Unter­schiede rel­e­vant, bleibt der struk­turelle Inter­essen­skon­flikt zwis­chen Kap­i­tal und Lohn­ab­hängi­gen grundle­gend.
Der dritte Unter­schied liegt in der Dichte, Konzen­tra­tion und Ver­füg­barkeit der Infor­ma­tio­nen. Im Betrieb fall­en pro Mitarbeiter_in laufend jede Menge exak­ter Dat­en auf vie­len Ebe­nen an und sie liegen, mehr oder weniger, in ein­er Hand.

Laufend heißt über die gesamte Arbeit­szeit hin­weg, stun­den­lang, täglich, über Jahre hin­weg.

Jede Menge heißt, dass neben Per­son­al- und Lohn­ver­rech­nungs­dat­en viele andere hinzukom­men wie etwa aus der Zeit­er­fas­sung, Pro­duk­tion, betrieb­sin­ter­nen Kom­mu­nika­tion, Zutritts- und Leis­tungskon­trolle etc.

Exakt heißt, dass diese Dat­en auf und mit den Sys­te­men des Unternehmens unter ein­deutiger Iden­ti­fika­tion der einzel­nen Mitarbeiter_in bit für bit erfasst wer­den kön­nen. Das erledigt schon jed­er Tas­te­nan­schlag und Klick ein­gel­og­gter Mitarbeiter_innen auf den „devices“ oder die Zutritts­mag­netkarte, das Tele­fon­sys­tem, der im Qual­itäts­man­age­ment fest­gelegte Arbeitsablauf usw.

Dort wo rechtliche Rah­men der Daten­er­fas­sung Gren­zen set­zen und organ­isierte Lohn­ab­hängige auf Ein­hal­tung dieser Gren­zen drän­gen, wirken dig­i­tale Logik und Kap­i­tal­is­mus diame­tral Rich­tung Ent­gren­zung. Dat­en zu erfassen und zu spe­ich­ern geht fast müh­e­los und ist kostengün­stig. Dat­en auszuw­erten und mit wiederum anderen Dat­en zu verknüpfen, ver­spricht in der dig­i­tal­en Welt Mehrw­ert. Was sich mit in Nullern und Ein­sern gesicherten Infor­ma­tio­nen machen lässt, ste­ht in keinem Ver­hält­nis zu den Kosten.

Bild 2: Die Mehrw­ert ver­sprechende Spi­rale aus Dat­en Erfassen, Sich­ern, Auswerten usw.

Aus dem analo­gen Infor­ma­tio­nen Besor­gen wird im pathol­o­gis­chen Extrem dig­i­taler „Daten­sam­mel­wahn“. Aus dem Bedürf­nis, Wis­sen archiviert und zugänglich zu hal­ten, wird das krankhafte Spe­ich­ern jed­wed­er bit’s’bytes auf Vor­rat, wird anlass­lose „Vor­rats­daten­spe­icherung“. Aus dem Bedürf­nis die Welt bess­er zu erken­nen und zu beherrschen, wird der trieb­hafte Zug zur „Raster­fah­n­dung“. Freilich sind diesen Schrit­ten in der dig­i­tal­en Welt immer noch Schranken geset­zt, sie wer­den aber weit­er­hin klein­er.

Der tech­nol­o­gis­che Fortschritt in Bezug auf Sam­meln, Spe­ich­ern, Auswerten wird vor­angetrieben, angetrieben durch die Erwartung­shal­tun­gen des Kap­i­tals. Das notwendi­ge Know-how ver­bre­it­et sich und wird abge­senkt, dh., dass für Kund_innen spezielle und bedi­enungs­fre­undliche Anwen­dun­gen pro­duziert wer­den (wie zB. Hard- und Soft­ware, die dem Man­age­ment bessere Überwachung der Mitarbeiter_innen und Kon­trolle der Belegschaft bieten). Rechtliche Schranken und Ein­schränkun­gen wer­den – mit großem Druck von Seit­en des Kap­i­tals – abge­baut.

Bild 3: Verstärkung asymmetrischer Machtverhältnisse

Dat­en sind das Öl des 21. Jahrhun­derts“, heißt es, und als solch­es wollen sie gefördert, ver­ar­beit­et und aus­gew­ertet wer­den. Sie kön­nen zweifel­los kap­i­tal­isiert wer­den. Dadurch wer­den jedoch nicht so sehr asym­metrische Machtver­hält­nisse geschaf­fen, als dass bere­its vorhan­dene, abgesicherte Asym­me­trien Voraus­set­zung dazu sind, Dat­en in Kap­i­tal umwan­deln zu kön­nen. Die Möglichkeit dazu set­zt in der Regel eine priv­i­legierte Posi­tion voraus und liegt nicht in den bit’s’bytes selb­st begrün­det.

Dat­en könn(t)en schließlich genau­so offen und frei zugänglich sein. Sie kön­nen Mit­tel zum Abbau von Asym­me­trien sein, sind das manch­mal auch. Viel wahrschein­lich­er sind sie aber Mit­tel zur Absicherung eines Mach­tun­gle­ichgewichts. Weniger abstrakt aus­ge­drückt, es liegt nicht in an Dat­en, die z.B. Unternehmen über uns als Lohn­ab­hängige haben, dass wir ein­fach­er zu beherrschen sind. Vielmehr liegt es an den Möglichkeit­en des Unternehmens, ungeah­nt detail­lierte per­so­n­en­be­zo­gene Infor­ma­tio­nen über uns zu besitzen sowie weit­ge­hendst sank­tions­frei gegen uns und unsere Inter­essen zu nutzen.

Dass beste­hende asym­metrische Machtver­hält­nisse vor diesem Hin­ter­grund weit­er ver­stärkt wer­den, hängt also wesentlich mit der Frage von Besitz und Eigen­tum von Dat­en zusam­men, mit der Verteilung von Recht­en an Infor­ma­tion und ihrer Ver­wen­dung. Klar, das galt schon vor der dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion. Wer Infor­ma­tio­nen anhäufen und den Zugang beschränken oder die Nutzung durch andere sog­ar auss­chließen kann, hat eine priv­i­legierte Posi­tion und kann sich weit­ere Vorteile ver­schaf­fen.

Die tech­nis­chen Grund­la­gen der dig­i­tal­en Welt leg­en dage­gen eher nahe, dass Beschränkung und Auss­chluss von Infor­ma­tion schwieriger gewor­den sein müsste. Dat­en sind in ihrer Natur als bits’n’bytes leichter denn je allen zugänglich. Es sind also nicht die ein­gangs geschilderten tech­nis­chen Bedin­gun­gen, die Asym­me­trien fordern und fördern, jeden­falls nicht alleine. Es sind Fra­gen der Rechte, der Ressourcen, des Eigen­tums (an Pro­duk­tion­s­mit­teln) und von Kon­trolle, Mitbes­tim­mung, Sank­tio­nen.

Bild 3: Ein bekan­ntes Bild, der Gegen­satz von Pro­duk­tion und Eigen­tum, hier für Dat­en.

Der Blick auf Pro­duk­tion ver­sus Besitz bzw. Eigen­tum von Dat­en wird an dieser Stelle Viele an die vorder­gründi­gen Pro­duk­te von Unternehmen denken lassen, an Werke, an Dien­stleis­tun­gen, die ange­boten und verkauft wer­den. Für die prekäre Sit­u­a­tion der gläser­nen Lohn­ab­hängi­gen sind diese Dat­en weniger rel­e­vant, als die „Meta­dat­en“ der Arbeit­sprozesse. Pro­duk­tion, das Arbeit­en mit den (und auf den) Pro­duk­tion­s­mit­teln des Unternehmens, kön­nte auch ohne Erfas­sung per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en über die Lohn­ab­hängi­gen funk­tion­ieren.

Gläsern wer­den die Arbei­t­en­den erst dadurch, dass auf den Pro­duk­tion­s­mit­teln erfasste bits konkret ein­er einzel­nen der vie­len im Betrieb arbei­t­en­den Lohn­ab­hängi­gen zuor­den­bar sind.

Wir sind somit wieder beim Bild des MitM-Unternehmens ange­langt. Durch die Auswahl und Kon­fig­u­ra­tion der einge­set­zten tech­nis­chen Sys­teme und devices steuert das Unternehmen, welche bits’n’bytes von Lohn­ab­hängi­gen pro­duziert wer­den und welche dabei anfal­l­en­den Infor­ma­tio­nen einzel­nen Per­so­n­en zugerech­net wer­den kön­nen. Die zur Kon­trolle der Arbei­t­en­den geeigneten

Dat­en fall­en nicht ein­fach automa­tisch im auf die Pro­duk­tion aus­gerichteten Arbeitsver­lauf an. Es braucht eine Unternehmensleitung, die ziel­gerichtet die Art, die Quan­tität und die Qual­ität der ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Dat­en fes­tlegt, in dem sie eine gewisse dig­i­tale Arbeit­sumge­bung und ‑abläufe vorschreibt. Dabei wird nahe­liegen­der Weise nicht allein an die Notwendigkeit­en der Pro­duk­tion gedacht, son­dern – je nach Inter­essen, gängige Prak­tiken und Man­age­men­tkul­turen – an die Bedürfnisse der H&R‑Abteilung, des Con­trol­ling, der Com­pli­ance, der IT usw.

Pointiert­er gesagt: Arbeit­sor­gan­i­sa­tion wird so vorgeschrieben, dass die Lohn­ab­hängi­gen mir jed­er Oper­a­tion selb­st die Infor­ma­tio­nen zu ihrer Kon­trol­lier­barkeit liefern, für die Repro­duk­tion der herrschen­den Repro­duk­tionsver­hält­nisse.

Bild 4: Like Puppets on a String, die Dystopie

Fassen wir zusam­men, was wir bis hier­hin wis­sen, und stellen wir die Frage, was das im worst-case bedeuten kön­nte: Erstens bedeuten zugewiesene Arbeit­splätze und ‑geräte im dig­i­tal­en Zeital­ter, run­dum in eine intrans­par­ente Man-in-the-Mid­dle-Umge­bung einge­bet­tet zu sein.

Zweit­ens wis­sen wir, dass die dig­i­tal­en Arbeit­sumge­bun­gen ständig Infor­ma­tio­nen über die in ihnen Täti­gen sam­meln. Die Arbei­t­en­den pro­duzieren einen Gut­teil der exak­ten per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en sog­ar selb­st. Die Summe der durch Mess­geräte, Sen­soren und die Aktio­nen der Arbei­t­en­den anfal­l­en­den Dat­en sind darüber hin­aus unmit­tel­bar im Besitz des Unternehmens.

Aus diesen ersten Punk­ten fol­gt drit­tens, dass Dat­en jed­erzeit verknüpft und per­so­n­en­be­zo­gen aus­gew­ertet wer­den könn(t)en, ohne dass die Betrof­fe­nen etwas davon mit­bekom­men.

Viertens ver­ste­hen wir, dass Unternehmensleitun­gen die von ihnen beherrschte dig­i­tale Arbeit­sumge­bung gezielt so ein­richt­en, dass Lohn­ab­hängige nicht nur die für die Pro­duk­tion von Waren und Dien­stleis­tun­gen notwendi­gen Dat­en pro­duzieren. Immer mer tech­nis­che Sys­teme und Arbeitsabläufe haben nicht unmit­tel­bar mit der Pro­duk­tion zu tun son­dern dienen der Überwachung, Kon­trolle und Beherrschung der Arbei­t­en­den.

Betra­cht­en wir das alles fün­ftens im Angesicht jün­ger­er Entwick­lun­gen wie data min­ing und big data. Was mit Datenbestän­den, wie sie in mod­er­nen Unternehmen über Lohn­ab­hängige anfall­en, alles gemacht wer­den kann, ist schlech­ter­d­ings nicht abse­hbar. Die vage For­mulierung ist bewusst gewählt. Wir bekom­men gesellschaftlich eben ger­ade erst eine Ahnung, welche Möglichkeit­en data min­ing in riesi­gen Daten­men­gen brin­gen wird. Wir wis­sen, dass sie immens sein wer­den.

Bere­its jet­zt find­en sto­chastis­che Mod­elle Anwen­dung, auf Basis der­er Wahlver­hal­ten prog­nos­tiziert wer­den, genau­so wie deviantes Ver­hal­ten, psy­chol­o­gis­che Eigen­heit­en, Leis­tung- und Krankheit­ser­wartun­gen je nach Verän­derung der Arbeit­sumge­bung, … oder sehr früh die Schwanger­schaft ein­er Lohn­ab­hängi­gen, die von ihrem Glück selb­st noch gar nichts weiß. Alles was es dazu braucht, ist nicht ein­mal big data son­dern lediglich ein per­so­n­en­be­zo­gen erfassendes Zutrittssys­tem mit Sen­soren zwis­chen Arbeit­splatz und Toi­let­tean­la­gen und die Soft­ware, die Verän­derun­gen in der Fre­quenz und Dauer des Aufs-Klo-Gehens mit dem Muster bei ein­tre­tenden Schwanger­schaften abgle­icht. Das ist nun nicht die Zukun­ft son­dern seit zwei Jahrzehn­ten Real­ität.

Sech­stens müssen wir uns vor Augen hal­ten, dass detail­lierte per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en Geld wert sind und dass Daten­sätze zu Per­so­n­en weltweit gehan­delt wer­den. Da z.B. Kun­den­dat­en regelmäßig verkauft wer­den, müssen wir im worst-case davon aus­ge­hen, dass sel­biges für die detail­lierten Dat­en aus dem Arbeit­sprozess gilt. Außer­dem ist bekan­nt, dass Datenbestände mitunter ver­loren gehen kön­nen. Unternehmen tauschen untere­inan­der Infor­ma­tio­nen über Lohn­ab­hängige aus. Der Staat kann an die aus­sagekräfti­gen Dat­en kom­men.
Die Frage ist also nicht, ob das passiert, son­dern in welchem Aus­maß das die Regel wird: data min­ing unter Ein­beziehung von „Arbeitswelt-Dat­en“ verknüpft mit Datenbestän­den aus anderen Quellen. Besitzer_innen der­art umfassender Daten­banken wer­den mehr über uns mod­el­lieren kön­nen, als wir über uns selb­st wis­sen.

Sieben­tens soll­ten uns bewusst sein, dass all diese Möglichkeit­en der Überwachung und Kon­trolle das Geschäftsmod­ell boomender Branchen und Indus­trien sind. Eine Unternehmensleitung muss sich nicht selb­st ein­fall­en lassen, wie sie die dig­i­tale MitM-Umge­bung eines Betriebs zur Kon­trolle der Lohn­ab­hängi­gen effizien­ter aus­bauen kön­nte. Den Unternehmen wer­den von konkur­ri­eren­den Spezialist_innen immer aus­gear­beit­etere tech­nis­che Sys­teme ange­boten, Hard­ware eben­so wie Soft­ware. Par­al­lel zu den neu entwick­el­ten Überwachungs- und Kon­troll­w­erkzeu­gen verän­dern sich Man­age­men­tkul­turen, ver­bre­it­en sich neue Philoso­phien der „workforce“-Überwachung, die auf z.B. auf die ständig fühlbar gemachte Präsenz des big boss is watch­ing you set­zen. Ein Zugang zu Man­age­ment hat sich etabliert, der mit­tels Auswer­tung per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en zu einem rank­ing darauf set­zt, pro Quar­tal die Mitarbeiter_innen in der unteren Dreier­perzen­tile zu kündi­gen, um über den Weg die human ressources zu opti­mieren.

Schließlich ist acht­ens zu beobacht­en, dass rechtliche Rah­menbe­din­gun­gen nation­al, auf EU-Ebene und glob­al (bzw. transna­tion­al) Schritt für Schritt unvorteil­hafter wer­den, sei es für Bürger_innen oder Lohn­ab­hängige. Im inter­na­tionalen Ver­gle­ich haben die Beschäftigten in Öster­re­ich noch dazu am meis­ten zu ver­lieren. Sie haben bei Anpas­sun­gen an neue EU- oder glob­ale Recht­sor­d­nun­gen am meis­ten zu ver­lieren.

Es ist mit fortschre­i­t­en­der Aufzäh­lung abse­hbar, was vom worst-case zu erwarten ist. Die Dat­en, die Arbeiter_innen weltweit selb­st für ihre Kon­trolle mit­pro­duzieren, zemen­tieren das asym­metrische Machtver­hält­nis zwis­chen Kap­i­tal und Arbeit weit­er ein. Die gläserne Lohn­ab­hängi­gen sind im großen Stil und bis zur einzel­nen Per­son run­terge­brochen aus­rechen­bar. Im Angesicht neuer mächtiger Überwachungs- und Kon­troll­tech­niken bei im worst-case als beseit­igt anzunehmenden rechtlichen Ein­schränkun­gen, gilt das von der Ebene der einzel­nen Betrieb­sabteilung über die Größenord­nung des transna­tion­al agieren­den Konz­erns bis hin zur gesamt­ge­sellschaftlichen Dimen­sion.

Bild 4: Steuerung­sop­tio­nen durch Kon­trolle per­so­n­en­be­zo­gen­er Datenbestände.

Lohn­ab­hängige sind in der aus dem worst-case abgeleit­eten Dystopie zu Mar­i­onet­ten degradiert bzw. auf den Wert dig­i­taler Pro­file reduziert. Auf Basis ihrer Erwerb­sab­hängigkeit wer­den sie gezwun­gen, genau jene Dat­en selb­st zu pro­duzieren, durch sie voll­ständig überwach­bar, aggregier­bar und in Mod­ell­szenar­ien aus­rechen­bar sind.

Bild 5: Realität der Zustimmungspflicht

Der worst-case ist ein Gedanken­ex­per­i­ment. Die Real­ität sieht anders aus. In ihr haben Arbeitnehmer_innen Rechte. Sie haben Möglichkeit­en, diese durchzuset­zen. Wie sehen die Rechte, wie die Möglichkeit­en aus?

Tech­nis­che Sys­teme, die per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en ver­ar­beit­en und nicht unter die definierten Stan­dar­d­an­wen­dun­gen fall­en wie diese in der „Verord­nung des Bun­deskan­zlers über Stan­dard- und Muster­an­wen­dun­gen nach dem Daten­schutzge­setz 2000“ fest­geschrieben sind, müssen erstens im Daten­ver­ar­beitungsreg­is­ter (DVR) gemeldet wer­den und sind zweit­ens, in Betrieben zwis­chen Arbeitnehmer_innen und Arbeit­ge­ber, zus­tim­mungspflichtig nach § 96 des Arbeitsver­fas­sungs­ge­set­zes.
„Fol­gende Maß­nah­men des Betrieb­sin­hab­ers bedür­fen zu ihrer Rechtswirk­samkeit der Zus­tim­mung des Betrieb­srates“, set­zt Absatz (1) an, um in Zeile 3 aufzuführen, „die Ein­führung von Kon­troll­maß­nah­men und tech­nis­chen Sys­te­men zur Kon­trolle der Arbeit­nehmer, sofern diese Maß­nah­men (Sys­teme) die Men­schen­würde berühren“.

Der Ein­satz von E‑Mail und Inter­net – bei­des berührt die Men­schen­würde und bringt die tech­nis­che Möglichkeit­en zur Kon­trolle durch den Arbeit­ge­ber mit sich – ist also zus­tim­mungspflichtig. Dig­i­tale Tele­fon­sys­teme, die Zeit­er­fas­sung, die Ver­wen­dung dig­i­taler Per­son­alak­ten, eine mobile Leis­tungser­fas­sung, Videoüberwachung, auf Per­so­n­en­dat­en basierende Zutrittssys­teme usw. … all das ist zus­tim­mungspflichtig. Wer muss diese Zus­tim­mung ein­holen und wer gib sie?

Wird ein per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en ver­ar­bei­t­en­des Sys­tem einge­set­zt und es gibt keinen Betrieb­srat im Betrieb, hat das Unternehmen die schriftliche Zus­tim­mung von jed­er einzel­nen Arbeitnehme_in einzu­holen. In vie­len Betrieben geschieht dies auch, üblicher­weise bei der Ein­stel­lung neuer Mitarbeiter_innen mit der Unter­schrift unter den Dien­stver­trag. Wird ein neues tech­nis­ches Sys­tem im Betrieb einge­führt, wird den Lohn­ab­hängi­gen etwas zur Unter­schrift vorgelegt, z.B. ein „code of con­duct“, mit dem auch die Zus­tim­mung zum Ein­satz des Sys­tems mitun­terze­ich­net wird. Unterze­ich­nen einzelne Mitarbeiter_innen der­gle­ichen nicht, dürften ihre Dat­en im jew­eili­gen Sys­tem nicht vorkom­men und sie die Sys­teme nicht ver­wen­den.

Gibt es einen Betrieb­srat, müsste für zus­tim­mungspflichtige tech­nis­che Sys­teme eine eigene Betrieb­svere­in­barung (BV) zwis­chen Geschäfts­führung (GF) und Betrieb­srat (BR) unterze­ich­net wer­den. Diese Betrieb­svere­in­barung, die es übri­gens vor Ein­satz solch­er Sys­teme und auch schon für Probe­be­triebe geben sollte, regeln nicht nur die Zus­tim­mung für die gesamte Belegschaft son­dern hal­ten auch ver­traglich fest, wie ein tech­nis­ches Sys­tem im Betrieb einge­set­zt wird, welche Dat­en erfasst wer­den dür­fen, was mit ihnen geschehen darf, wer Zugang zu Auswer­tun­gen hat, wie in heiklen Fällen vorzuge­hen ist und über welche Instru­men­tarien der Betrieb­srat als geset­zliche Vertre­tung der Beschäfti­gen seine Kon­troll­rechte umset­zen kann.

Freilich kommt es vor, dass tech­nis­che Sys­teme in Betrieben ohne weit­ere Regelung und ohne Zus­tim­mung im Ein­satz sind. Diese dürften dann zwar nicht laufen, aber wo das nicht bekan­nt ist, oder wo das zwar bekan­nt ist, sich die Lohn­ab­hängi­gen einzeln oder als Betrieb­srat organ­isiert jedoch nicht durch­set­zen, küm­mert sich nie­mand darum, diese Sys­teme abzu­drehen, bis ihr Ein­satz für die Betrof­fe­nen zufrieden­stel­lend geregelt ist. Das ist aber das Mit­tel, eine zufrieden­stel­lende Regelung für alle zu tre­f­fen, mit der die spez­i­fis­che Form des Aus­geliefert­seins der gläser­nen Lohn­ab­hängi­gen möglichst vol­lends entschärft wird.

Lohn­ab­hängige soll­ten sich aus ihrer prekären Sit­u­a­tion her­aus daher klären, (1) welche zus­tim­mungspflichti­gen tech­nis­chen Sys­teme im Betrieb im Ein­satz sind, (2) ob diese per Betrieb­svere­in­barun­gen geregelt sind, (3) wie diese Betrieb­svere­in­barun­gen und darin enthal­tene Regelun­gen ausse­hen, (4) ob sie zufrieden­stel­lend geregelt sind und (5) wie ihre Ein­hal­tung im Fall des Fall­es kon­trol­liert wer­den kann.

Bild 5: Fra­gen, die Lohn­ab­hängige pro per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en ver­ar­bei­t­en­dem Sys­tem klären soll­ten.

Gehen wir davon aus, dass es einen Betrieb­srat gibt. Er will eine Betrieb­svere­in­barung erre­ichen. Wie gehen die Mit­glieder des BR vor, worauf sollte geachtet wer­den?

Es gilt, dass es die GF sein sollte, die einen Entwurf für eine neue BV dem BR vor­legt. Sie ist es, die das Sys­tem ein­führen will. Vor Unterze­ich­nung der BV lehnt der BR die Inbe­trieb­nahme des tech­nis­chen Sys­tems ab. Auch der Test­be­trieb wäre abzulehnen, soll­ten reale Dat­en von Mitarbeiter_innen ver­wen­det wer­den. Für den Test­be­trieb sollte in dem Fall eine eigene BV densel­ben regeln, beson­ders die Frage, was nach Ablauf des Test­be­triebs mit den Dat­en real­er Mitarbeiter_innen geschieht.

Nehmen wir an, das neue Sys­tem, das einge­führt wer­den soll, ist z.B. ein „SAP Enter­prise Resource Plan­ning (ERP) Core Human Resources“-System. Oder unser Unternehmen will eine Social Media Anwen­dung im Betrieb aus­rollen, etwa Googles g+ oder Microsofts Yam­mer. Als BR sind wir von diesen Plä­nen vor­ab zu informieren und haben Anspruch auf die schriftlichen detail­lierten tech­nis­chen Beschrei­bun­gen des Sys­tems, wie es nach Absicht der GF einge­führt wer­den soll.

Diese tech­nis­chen Spez­i­fika­tio­nen sehen die BR-Mit­glieder genau durch, holen sich Unter­stützung in der Beurteilung, suchen nach Erfahrun­gen in anderen Betrieben und for­mulieren dann Fra­gen, die sich aus den tech­nis­chen Spez­i­fika­tio­nen und für den Ein­satz notwendi­gen Dat­en ergeben. Wahrschein­lich bekommt der BR eine Verkauf­spräsen­ta­tion des Sys­tems ange­boten, die vom Anbi­eter SAP, google oder Microsoft vorgenom­men wird.

Par­al­lel zur Über­prü­fung der tech­nis­chen Spez­i­fika­tio­nen bit­tet der BR die GF um eine schriftliche Präsen­ta­tion, was mit dem Sys­tem im Betrieb erre­icht wer­den soll. Was ist der Zweck der Ein­führung? Dieser Punkt, die schriftliche Def­i­n­i­tion des Zwecks, ist äußerst wichtig, wie wir gle­ich sehen wer­den. Vom Zweck ist näm­lich abzuleit­en, ob er für den Unternehmenser­folg notwendig gerecht­fer­tigt ist, ob er den Ein­satz eines konkreten Sys­tems und die Erfas­sung bes­timmter per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en durch ihn gerecht­fer­tigt sind, ob er nicht auch anders und mit gelin­deren Mit­teln erre­icht wer­den kön­nte und, falls der Zweck tat­säch­lich die Erfas­sung und Spe­icherung per­so­n­en­be­zo­gen­er Dat­en gerecht­fer­tigt, wann diese Dat­en wieder gelöscht wer­den kön­nen bzw. gelöscht wer­den müssen.

Die Ziele des BR müssen sein, dass erstens so wenig per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en als möglich erfasst und wo immer möglich pseu­do­nymisiert ver­ar­beit­et wer­den.

Zweit­ens sollte sichergestellt sein, dass ein­mal erfasste per­so­n­en­be­zo­gene Dat­en bei erster Gele­gen­heit gelöscht wer­den.

Drit­tens sind tech­nis­che Sys­teme und ihre Daten­banken so voneinan­der abzu­gren­zen, dass Verknüp­fun­gen über ihre Datenbestände hin­weg möglichst schwierig sind. Solche Auswer­tun­gen sind ver­boten, sie soll­ten also nicht zu ein­fach mit weni­gen Oper­a­tio­nen möglich sein. Es gilt Hür­den einzubauen, nicht nur auf die rechtlichen ver­trauend son­dern tech­nis­che ein­bauend.

Viertens sollte der BR die Kon­troll­rechte der­art oper­a­tional­isiert festschreiben lassen, dass sie der ungün­sti­gen MitM-Aus­gangslage zum Trotz und auch bei etwaigen Aus­lagerun­gen von IT-Dien­stleis­tun­gen effek­tive Ein­sicht und guten Überblick ermöglichen.

Mit dem Hebel der geset­zlichen Vertre­tung der Inter­essen der Mitarbeiter_innen im Betrieb müssen wir danach tra­cht­en, präven­tiv die pathol­o­gis­chen Auswüchse eines „Daten­sam­mel­wahns“, ein­er „Vor­rats­daten­spe­icherung“ und ein­er „Raster­fah­n­dung“ auszuschließen.