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SoZi 22|09: Tabus und Gruppenselbstbetrug

Das Son­ntagsz­i­tat noch ein­mal als Fort­set­zung des SoZi 19|09 und des Feiertagsz­i­tats 21|09 zur Grup­pen­sozi­olo­gie. Allerd­ings gibt es noch nicht, wie eigentlich anvisiert und angekündigt, Zitat­stellen zur “Gruppe zweit­er Ord­nung” son­dern zuvor noch Pas­sagen aus dem Kapi­tel:

5. Exkurs über “Grup­pen-Tabus” und Grup­penselb­st­be­trug

Die Analyse ein­er sich zusam­men­find­en­den und dann auf­bauen­den Gruppe, dann der gruppe in Aktion, bis zum möglichen Zer­fall deckt eine Fülle von Fein­ver­läufen auf, durch die Mit­glied­san­wärter zu Grup­pen­mit­gliedern, eine Ver­samm­lung von Anwärtern zu ein­er Gruppe gemacht wer­den. Von diesen Vorgän­gen treten einige bes­timmte dur­chaus in deas Bewußt­sein der Gruppe, das heißt, sie wer­den von den Grup­pen­mit­gliedern als “Gruppe” reg­istri­ert. Andere wer­den nur von einzel­nen Mit­gliedern bemerkt. Ene weit­ere Rei­he von Prozessen wird “ver­drängt”, darunter wiederum bes­timmte stärk­er “tabuisiert”.

Tritt ein – zukün­ftiges – Mit­glied in eine bere­its beste­hende Gruppe ein, dann reg­istri­eren ein­er­seits die anderen dur­chaus genau, wer sich ihnen hier wie “vorstellt”. [..] Auch der dann erfol­gende Angle­ichungsvor­gang entzieht sich nicht ganz dem Bewußt­sein des Neul­ings. [..] Das Bewußt­sein von Macht­losigkeit oder von Ein­fluß im Grup­pen­prozeß kann durch aus rel­a­tiv wach sein. Kleine Dif­feren­zen zwis­chen dem Bin­nenselb­stver­ständ­nis der Gruppe und deren Außen­darstel­lung wer­den der Aufmerk­samkeit aller auch nicht ent­ge­hen; die Rol­len­verteilung wird im Prozeß der Bil­dung eines Rol­lenge­füges beachtet und beobachtet; Sol­i­dar­ität wird bewußt erlebt; Grup­pen­er­folg freudig reg­istri­ert; Spal­tung­s­ten­den­zen kön­nen und wer­den meist die Aufmerk­samkeit steigern; eine prak­tisch geschehene Spal­tung erzeugt höch­ste Wach­samkeit.
Und den­noch deckt sich der Schleier ein­er zunehmenden Tabuisierung von Anfang an über das Grup­pengeschehen:
[..] Was da aus­geklam­mert, das heißt, was prak­tisch ver­drängt wird, wird dem Unter­suchen­den deut­lich, wenn er Grup­pen­mit­glieder auf solche  – zwangsläu­fi­gen – Prozesse aufmerk­sam macht. Ihm schlägt meist  – min­destens zuerst – eine Welle von Ablehnung und/oder Miß­trauen ent­ge­gen. Sie zeigt, welch hohen Grad an Selb­stver­ständlichkeit fun­da­men­tale und unab­weis­bare Prozesse in der Gruppe haben. Ana­log der “kul­turellen Selb­stver­ständlichkeit” in ganzen Gesellschaften/Kulturen, denen das Sprechen in “ihrer” Sprache, das Ver­hal­ten nach “ihren” Wertvorstel­lun­gen und Nor­men in “Fleisch und Blut” überge­gan­gen ist, trifft der Hin­weis darauf auf entsprechende Ver­wun­derung und Ablehnung, wird häu­fig sofort und oft wortre­ich ver­drängt. Gle­ich­es gilt für die weit­eren Grup­pen­prozesse, und zwar in zunehmenden Maße mit der Kon­so­li­dierung der Gruppe. [..]

Vehikel dieser Tabuisierungs-Prozesse ist in der Gruppe, wie allen anderen sozialen For­ma­tio­nen, bis hin zu den größten, die Mehrheits­bil­dung: Hat erst eine Mehrheit “eine Mei­n­ung”, dann hat auch die Min­der­heit diese Mei­n­ung zu vertreten, und über­haupt der einzelne. Ein “Ter­ror der Mehrheit”, wie ihn Alex­is de Toc­queville als bedeu­tende Gefahr für Demokratie war­nend sah, ist für Grup­pen kon­sti­tu­tiv! [..]

Zuge­hörigkeit zu ein­er Gruppe ist heute eine psy­chis­che, gesellschaftliche und poli­tis­che Notwendigkeit. Prob­leme man­gel­nder Kon­flik­t­fähigkeit des einzel­nen und Vere­inzel­ten kön­nen in der kleinen Gruppe gelöst wer­den, Ein­sicht in Art und Weise des eige­nen Ver­hal­tens und seine Wirkun­gen auf andere kann gewon­nen wer­den, Sol­i­dar­ität kann geübt wer­den, ein ungesichertes Iden­titätsver­hält­nis zu sich selb­st kann der einzelne in der Gruppe sta­bil­isieren; zudem ist eine Gruppe u. U. leis­tungs­fähiger als eine Anzahl einzel­ner. Ger­ade die großen Möglichkeit­en der Gruppe kön­nen aber auch der Entwick­lung ihrer Mit­glieder ent­ge­gen­ste­hen. Der in der Gruppe zwangsläu­fig entste­hende Homogenisierungs­druck, die ein­set­zende Angle­ichung von Mei­n­un­gen, Hal­tun­gen, Aus­drucks­for­men, sie kön­nen dazu führen, daß sich die Gruppe – sofern das möglich ist – unmerk­lich von der Real­ität ent­fer­nt und ihre Pseudo­re­al­ität selb­st auf­baut. Je weit­er dieser Prozeß, der hier mit “Grup­pen-Selb­st­be­trug” beze­ich­net wer­den soll, fortschre­it­et, desto empfind­lich­er wird die Gruppe, wer­den die Grup­pen­mit­glieder gegenüber der Auf­forderung reagieren, objek­tive Real­ität zu akzep­tieren, sich an der Real­ität zu messen. Über Abwehrhal­tun­gen kann in ein­er Gruppe schnell Einigkeit erzielt wer­den, oft auch ohne Worte: Scheinen die Inter­essen aller berührt zu sein, bedarf es  kein­er Abstim­mung, die Übere­in­stim­mung ist ein­fach da. Da solche Abwehrhal­tun­gen auch zugle­ich Investi­tio­nen bedeuten – so wie die Anstren­gung des Ver­drän­gens über­haupt –, sind sie um so schwieriger abzubauen, je länger sie sich ver­fes­tigt haben.

Claessens, Dieter (1995 [1977]):
Gruppe und Grup­pen­ver­bände. Sys­tem­a­tis­che Ein­führung in die Fol­gen von Verge­sellschaf­tung

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